DIE ZÜNDHOLZFRAU / 2025
Alle drei Jahre ist es in Verden so weit: Der Dom verwandelt sich in eine große Bühne, auf der mehr als 100 Darsteller performen. Im Backstage zeigt sich, was Leidenschaft und Engagement möglich machen.
Von Anja Semonjek
Wenn man hinter den Bauzaun geht, ist das, als betrete man eine andere Welt. So empfindet es Gaby Kracke. Sie engagiert sich ehrenamtlich im Backstage der Theaterproduktion „Die Zündholzfrau“ der Verdener Domfestspiele. Das Stück entführt die Zuschauer auf eine Zeitreise ins Jahr 1878, in ein Verden, in dem die Arbeiter der Zündholzfabrik schuften und gleichzeitig um ihre Rechte kämpfen. Die bürgerlichen Aufsteiger Verdens – gekleidet in prächtigen Gewändern – verfolgen derweil ihre eigenen Interessen.
„Hier kümmert sich jeder um jeden. Das ist einfach schön“, sagt Kracke. Sie schätzt die Leidenschaft für das Theater, die alle verbindet. Doch das Managen des Backstage stellt immer eine Herausforderung dar: Requisiten müssen zügig ausgebessert werden, das Bühnenbild nachjustiert und die Sorgen der Schauspieler besprochen werden. „Schenkt man den Menschen ein großes Lächeln, ist das sehr hilfreich.“
Rund 100 Darsteller auf einer 40 Meter großen Bühne
Der Bereich hinter dem Bauzaun ist weitläufig und belebt, etwa 100 Menschen tummeln sich hier – denn so viele Darsteller stehen später am Abend auf der 40 Meter großen Bühne, die vor dem Dom aufgebaut ist. Die meisten spielen ehrenamtlich, während fünf professionelle Schauspieler die Hauptrollen verkörpern.
Seit einem halben Jahr laufen die Proben, doch die Produktion befindet sich seit einem Monat in der heißen Phase – mit Bühnenaufbau, Inszenierung und Generalprobe. Die ersten Aufführungen sind mittlerweile über die Bühne gegangen. Am 9. August wird es die letzte Darbietung geben.
Volker Schwennen behält stets den Überblick, sowohl hinter den Kulissen als auch auf der Bühne. Als Produktionsleiter hat er die Aufführung über Jahre hinweg akribisch geplant: Denn die Festspiele am Dom, die alle drei Jahre stattfinden, erfordern bereits in der Antragsphase für Fördermittel einen hohen Zeitaufwand. Diese Gelder sind unerlässlich, um die Produktionskosten von rund einer halben Million Euro zu decken. Dafür besprach Schwennen zunächst mit dem Autor und Regisseur Hans König sowie dem Vorstand des Domfestspiele-Vereins das Thema des Stücks. König entwickelte daraufhin das Drehbuch, in dem er historische Fakten der Stadt mit fiktiven Elementen verknüpfte.
Anfänglich arbeitete Schwennen alleine an der Planung. „Aber irgendwann beginnen die Proben, und dann weiß man, wofür man das alles macht“, sagt er. Während er durch das Backstage spaziert und die Schauspieler mit innigen Umarmungen begrüßt, wird klar, was er meint.
______________________________________
TAZ. Über 100 Menschen auf der Bühne – und dahinter die beeindruckenden Mauern: die Domfestspiele Foto: DFS25/Volker Schwennen
TAZ. Ilenia Marstaller wirkt in der Rolle der Theaterleiterin auf und als Maskenbildnerin hinter der Bühne Foto: DFS25/Schwennen
In Verden machen sich die Bürgerinnen ihr Theater selbst: Die Domfestspiele sind ein soziokulturelles Ereignis für die Stadt. Ein künstlerischer Erfolg sind sie aber auch
Von Henning Bleyl
50 Jahre ist es her, dass Verden seine feste Spielstätte verlor, das „Landestheater Niedersachsen-Mitte“. Noch immer kann man an der Aller Menschen treffen, für die der 1975 erfolgte Abriss eine virulente Lücke markiert – die auch architektonisch noch schmerzt, in Gestalt des wirklich hässlichen Kreiszeitung-Gebäudes am selben Ort. Derzeit ist in Verden dennoch so etwas wie „Stadttheater“ zu besichtigen. Denn so könnte man den Begriff ja auch definieren: Als urbanes Ereignis und von der Stadtbevölkerung selbst gestaltete Struktur.
Diese Struktur heißt „Domfestspiele“. Die finden alle drei Jahre statt, aktuell mit der Produktion „Die Zündholzfrau“. Vor den mächtigen Maßwerk-Fenstern des Doms stehen mehr Menschen auf der Bühne, als Zuschauer in Theatern erlaubt sind, solange die Feuerwehr nicht anwesend ist. Schon die schiere Menge der Schauspieler:innen reißt also die 99 Personen-Grenze, es sind so viele wie noch nie. Weitere 50 Menschen kümmern sich um Bühnenbau, Kostümerie und Maske oder sind sonst wie Backstage aktiv. Dass sie alle seit Januar viele Abende und seit Mai jedes Wochenende investiert haben, zeigt: Verden ist Theaterstadt, selbst gemacht.
Thematisch betreten die „Domis“ jedes Mal Neuland. Während sich Worms vor seinem Dom seit 1937 an den Nibelungen abarbeitet, durchstreift Verden munter die Jahrhunderte. Seit 14 Jahren geschieht das unter der Regie von Hans König, der die Stücke schreibt und auch die Musik komponiert. Nach allerlei Mittelalterlichem oder auch Verdens Schwedenzeit ist König jetzt im 19. Jahrhundert angekommen, mitten in der Dynamik der Gründerzeit, befeuert durch den Sieg über Frankreich samt Raub des Pariser Staatsschatzes. Das aufstrebende Verdener Bürgertum sitzt vergnügt im Salon und versucht sich als Entrepreneurs und Fabrikanten. Bismarck nutzt derweil die Attentate auf den Kaiser im Jahr 1878, um die Arbeiterbewegung per „Sozialistengesetz“ zu kriminalisieren.
Dafür, dass die Verdener über Jahrhunderte eher Ackerbürger als Unternehmer waren sind sie im Gründerboom richtig rege und kreativ. Allen voran Wilibert Stendel, ein aufstrebender Gastwirt: Bald schon gehört ihm die örtliche Zeitung, er produziert Tüten, Ziegel, Zündhölzer, Tabak – und Theaterstücke. Tatsächlich war Stendel der Begründer des ersten ganzjährig bespielten Verdener Theaters. Immerhin ein Zweispartenhaus, Oper wurde auch gegeben.
Mit Stendel hat König eine vielschichtige historische Hauptfigur gefunden. Dass er dem kunstaffinen Unternehmer eine eher ahistorische Affäre mit einer aufrührerischen Arbeiterin andichtet, ist ein wenig gewagt, eröffnet aber Verhandlungsräume: Was ist Fortschritt, was ist gerecht – zum Beispiel die Arbeitszeit von täglich 14 Stunden in den Verdener Fabriken? Die sei noch „ausbaufähig“, findet Stendel zunächst – um sich dann überzeugen zu lassen, sein Theater dem Klassenkampf zu öffnen.
100 Menschen auf der Bühne, das könnte durchaus statisch wirken. Tut es aber nicht, weil König starke Bilder baut. Und weil er die Menge immer wieder in Bewegung bringt: Seine Massenchoreografie, bei der ein Walzer zur Kampftanzzone zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft mutiert, hat Pogo-Power. Nebenbei offenbart er auch die ersten Risse in der Stendelschen Ehe.
Königs künstlerische Mittel sind vielfältig. Sie umfassen feinjustierte Sounds ebenso wie psychodramatische Momente, etwa in Stendels Selbstzweifeln. Dafür ist gut, dass drei wichtige Rollen mit externen Profis besetzt sind – aber noch besser ist, dass Vania Brendel, Franziska Mencz und Andreas Brendel ihr Können in einer Weise einbringen, die immer anschlussfähig an die 97 anderen bleibt. Von denen übrigens einige brillieren, etwa Uwe Pekau als völlig überforderter Bürgermeister.
Zu Königs Job gehört lokalhistorische Recherche, und so lässt er auch Anita Augspurg auftreten: Sie war Deutschlands erste promovierte Juristin und zeigte noch im Alter politische Weitsicht, indem sie 1923 Hitlers Ausweisung aus Deutschland forderte. Im heimatlichen Verden debattiert sie aber zunächst mal über das Frauenwahlrecht.
Um von all dem zu erzählen brauchen die Domfestspiele eine beinahe bayreuthische Aufführungsdauer von dreieinhalb Stunden. Doch während die am gleichen Tag eröffneten Wagnerspiele ihre „Meistersänger“ mit burschikoser Komik banalisieren, schaffen die Verdener:innen etwas Bemerkenswertes: Es ist nie langweilig und auch nicht kitschig – sondern cool.
______________________________________
Hingucker: die Ankunft der motorisierten Droschke. Foto: FOCKE STRANGMANN
Von Susanne Ehrlich
Jubel und stehende Ovationen am Ende der Premiere der Verdener Domfestspiele: Ein prall gefüllter Bilderbogen aus der Verdener Stadtgeschichte, eine Mischung aus scharfzüngigen Dialogen, Komik, historischer Ernsthaftigkeit und Knalleffekten, schönen Choreografien, Kostümen und Requisiten und einem Bühnenensemble, dessen Spielfreude und Interaktion keine Wünsche offen lässt.
Verden im Jahr 1878: Ein tiefer Graben geht durch die Gesellschaft der Allerstadt: Für die einen ein Leben voller Macht, Luxus und unbegrenzter Freiheit, für die anderen 14 Stunden harte und brandgefährliche Fabrikarbeit für Hungerlohn. Hans Königs Stück "Die Zündholzfrau" mit seinen intelligenten Dialogen gibt auf dem von Henning Diers gestalteten multi-perspektivischen Bühnenpanorama tiefe Einblicke in die Situation der Menschen auf beiden Polen der Gesellschaft.
Zwei Frauen im Fokus
Der Unternehmer Willibert Stendel (Andreas Brendel), trotz seiner Verletzlichkeit ein skrupelloser und zynischer Geschäftsmann, gewinnt durch seine Liebe zur klassenkämpferischen Arbeiterin Klara Libschütz (Vania Brendel) eine ganz neue Sicht auf das Dasein seiner Arbeiter. Seine ehrgeizige Frau Eugenia (Franziska Mencz), intrigant, bösartig und ohne Mitgefühl, doch mit dem Gesicht einer Göttin, wird für jeden, der sich ihr in den Weg stellt, zur Furie. Mit großer Anschaulichkeit gestalten die beiden Frauen ihre so unterschiedlich motivierten Beziehungen zu Willibert.
In Rückblenden wird auf Stendels bedrückende Kindheit geschaut, in der er dem Sadismus seines Vaters völlig schutzlos ausgeliefert war. Immer wieder steigt die Gestalt des Knaben, der er einst war, aus dem Nebel der Vergangenheit (ausdrucksstark und beeindruckend präsent: der erst zehnjährige Flemming Blohme).
Die Zündholzfabrik steht im Mittelpunkt des Geschehens.
Als Klara zufällig in einem Moment der Schwäche in Willibert den Menschen erkennt, der er gern wäre, kehrt sich sein Innerstes nach außen. Wie es Brendel gelingt, Williberts gegensätzliche Persönlichkeitsschichten in ihrer Verhärtung und Verletzlichkeit transparent zu machen, das ist eine schauspielerische Meisterleistung, von der raffiniert femininen Eugenia mit dem harten Männerherzen ebenso ideal sekundiert wie von der ruhig-bestimmt agierenden, fein empfindenden und dabei innerlich vor Leidenschaft lodernden Klara.
Wenn Fortschritt überfordert
Als Arbeiterführer Otto Libschütz ist Bernd Maas so etwas wie die gute Seele der Arbeiterbewegung, konsequent, aber überlegt und verantwortungsbewusst, und erzeugt ein hohes Maß an Identifizierung. Uwe Pekau brilliert als alternder Bürgermeister Münchmeyer, der, zwar eine gute Seele, aber nicht mehr allzu durchsetzungsfähig, von der Wucht der technischen Innovation ganz wirr im Kopf wird. Umwerfend komisch ist sein Abgang in der Motordroschke, aus der er, vor käsebleicher Übelkeit tief in den Sitz gesunken, den Kopf heraushängen lässt.
Björn Emigholz ist der erzkonservative Schuldirektor Hillmann, der zwischen puritanischer Prüderie und Lüsternheit, streng geforderter Disziplin und Ausschweifung changiert und in seiner Parade-Szene mit jedem Schnaps ein wenig wackeliger und komischer wird.
Zum Erbarmen elend und gebeutelt ist der havarierte jüdische Zündholzfabrikant Gustav Goldmann (Jörg Outzen), der zwischen Mitgefühlsappellen, Rachsucht und düsteren Drohungen das ganze ABC kaufmännischer Verzweiflung durchbuchstabiert. Als Theaterdirektor Dr. Lenz, dem Stendel im Würfelspiel Ensemble, Kostüme und Requisiten abluchst, macht Ralf Böse dagegen noch eine recht gefasste Figur und zahlt es seinem Widersacher am Ende heim, dass dieser ihn zum Zeitungsschreiber degradiert hat.
Szene mit Durchschlagskraft
Herrlich finster sind die Partien des Geheimdienstoffiziers (Jens Sarrasch) und des Kollaborateurs (Mae Bührmann), die den geplanten Arbeiteraufstand zugleich eskalieren und sabotieren, sodass er mit einem großen Knall endet. Apropos Knall: Bereits in Szene sechs manifestiert sich der Fortschritt in Form von zwei Dynamit-Stangen des Ingenieurs Wichert (Hans-Jürgen Schulz), deren Wirkung er mit Durchschlagskraft demonstriert.
Auf angenehmere Art lässt es die Tanz-Gruppe des TSV Etelsen krachen: Ihren Cancan präsentierten die Mädels virtuos, springlebendig und zum Anbeißen süß. Auch die böhmische Schauspieltruppe mit ihren tollen Kostümen und dem turbulenten Gewusel, die hinreißend schöne Walzerszene, in der beide gesellschaftlichen Schichten aufeinandertreffen, die eindrucksvoll choreografierten Demonstrationen des Arbeitervolkes und die makabre Jagdszene der Honoratioren, in der Eugenia mit blutverschmierten Händen eine lebensechte Wildsau ausnimmt, sind fantasievoll, gespickt mit raffinierten Details und so künstlerisch wie unterhaltsam. Großes Lob verdienen die von Christiane Artisi einstudierten Gesangs- und Chorszenen, in denen Vania Brendel und Ilenia Rebecca Marstaller mit stimmstarken Soli beeindrucken.
Im Finale ist ein guter Teil der angesehenen Bürger ins Nachdenken gekommen; gemeinsam mit der Arbeiterschaft singen sie Hans Königs Lied vom großen Haus, in dem niemand Not leidet. Nur einige, allen voran Eugenia und ihre skrupellose Sippe, bleiben abseits stehen, und in einem letzten berührenden Moment schiebt das Kind seine Hand in die des aus seinen Albträumen erwachten Willibert.
Weitere Aufführungen gibt es am 29. und 30. Juli sowie am 1., 2., 5., 6., 8. und 9. August jeweils um 20 Uhr. Einlass ist ab 19 Uhr, das Gastro-Zelt ist für Besucher bereits ab 15 Uhr geöffnet.
______________________________________
Die Verdener Oberschicht hat auch dunkle Geheimnisse, wie das Publikum erfährt. © Niemann
Ein Tumult bricht unter den Arbeitern aus, als die Polizei ihren Widerstand niederschlägt. © Niemann
Von Christel Niemann
Die Generalprobe von „Die Zündholzfrau“ begeistert das Publikum. Hans König bringt erneut frischen Wind. Die Inszenierung ist bis August zu sehen.
Gelungener Auftakt der Verdener Domfestspiele 2025, die mit großem Beifall und vor vollbesetzten Publikumsrängen ihre Generalprobe auf der Freilichtbühne am Dom absolviert haben. „Die Zündholzfrau“ lautet der Titel des Stücks mit rund 100 Akteuren, darunter nur wenigen Profis, aber dutzenden engagierten Laien aus der Region um den Autor und Regisseur Hans König, der bereits zum fünften Mal frischen Wind in die Festspiele bringt, die über jeden provinziellen Habitus erhaben sind. Die Inszenierung widmet sich diesmal einem Stück Verdener Geschichte, das selbst vielen Einwohnern vollkommen unbekannt ist, obwohl eine überaus prägnante Figur im Fokus steht: der Verdener Unternehmer Willibert Stendel.
Es ist das Jahr 1878. Hermann Heinrich Willibert Stendel (Andreas Brendel) ist ein Mann mit ausgeprägtem Geschäftssinn, Risikobereitschaft und Selbstbewusstsein und ein Paradebeispiel für einen bürgerlichen Aufsteigertypus seiner Zeit. Stendel besitzt eine Zündholz- und eine Tütenfabrik in Verden und ist Inhaber eines Verlages, der die Obergerichtszeitung sowie eine Illustrierte herausgibt. Außerdem hat er vom Vater ein Lokal an der Stifthofstraße geerbt. Darin befindet sich ein Theater. Dessen langjähriger Impresario Doktor Lenz (Ralf Böse) hatte beim Würfelspiel die Aufführungsrechte an Stendel verloren.
Stendel ist überzeugt, dass er in die Verdener Oberschicht aufsteigen wird. Sein zum Zeitpunkt der Handlung bereits verstorbener Vater war zwar ebenfalls ehrgeizig, aber als Trinker autoritär und unberechenbar. Stendel entwickelte als Folge Ängste, denen er sich aber nicht stellt, sondern versucht, sie mit Alkohol und körperlicher Ertüchtigung zu beherrschen. Panikattacken kommen aber dennoch, er fühlt sich verfolgt von einem Jungen (Flemming Ovid Blohme). Seine Ängste bleiben auch seiner Frau Eugenia (Franzisca Mencz) nicht verborgen. Die Tochter des Richters Rabelius (Dirk Aue) ist von kalkulierender Natur und die Beziehung nicht mehr als ein von gegenseitiger Anziehung unterfütterter Deal.
Unterdessen organisieren sich die Arbeiter in Verden, auch in Stendels Zündholzfabrik. Angeführt werden sie von den Zigarrenarbeitern, aber ein Geschwisterpaar ist besonders aktiv mit dabei: Klara Libschütz (Vania Brendel) und ihr Bruder Otto (Bernd Maas). Sie befeuern, unterstützt von der jungen Anita Augspurg (Yumi Harbauer), den Protest der Arbeiter, indem sie ihnen aus sozialkritischen Schriften vorlesen. Proteste werden von der Polizei rigoros niedergeschlagen und die Rädelsführer exemplarisch bestraft. Die Lage spitzt sich zu. In Verden kommt es zu Sabotagen in der Zündholzfabrik. Eines Tages begegnen sich Klara und Stendel, die Rädelsführerin und der emotional stark angeschlagene Unternehmer, und beginnen heimlich eine leidenschaftliche Liebesaffäre, durch die alles außer Kontrolle gerät.
König führt das Publikum mit klarer Sprache und eindrücklichen Szenen durch eine Epoche, die in vielem bis heute nachwirkt. Parallelen zu aktuellen gesellschaftlichen und politischen Fragen sind dabei unübersehbar. Insgesamt bietet „Die Zündholzfrau“ Schauspiel auf hohem Niveau. Das Ensemble überzeugt bis in die kleinsten Rollen hinein. Ernste, aber auch komische, hin und wieder auch deftige Wortgefechte –„dicke Klöten sind vonnöten“, „furze nur so hoch, wie dein Arschloch reicht“ – werden von nachdenklichen Momenten abgelöst, denen die Zuschauer wechselnd zwischen amüsierten Lachern in heiteren Passagen und Mucksmäuschenstille in den dunklen Phasen des Stücks folgen.
Den großen Bühnenraum weiß der Regisseur dabei gut zu nutzen, indem die von Henning Dierks gebauten Kulissen – Ausstattung Ilse Schubert – sowohl in lichtdurchflutete als auch düstere Orte wechseln, an denen Arbeiter und Bourgeoise, Kämpfer, Träumer, Visionäre, Verlierer und Hoffnungslose einander begegnen. Es passiert ständig etwas auf der Bühne, auch abseits der eigentlichen Szenen – mal wichtig, mal ablenkend, aber immer interessant.
Bereits das Publikum der Generalprobe zeigte sich angetan von der Intensität und das Meinungsbild war von Begeisterung gezeichnet. Und selbst „erfahrene“ Besucher der Domfestspiele waren verblüfft über die spektakuläre Bühne.
Die Domfestspiele laden noch bis einschließlich 9. August zum Theatererlebnis unter freiem Himmel ein. Tickets sind über Nordwest Ticket und bei Verfügbarkeit an den Spieltagen an der Abendkasse (nur Barzahlung möglich) erhältlich.
______________________________________
Christiane Artisi (Mitte) hat Vania Brendel (l.) und Ilenia Rebecca Marstaller auf ihre großen Auftritte vorbereitet.
Sie hat schon auf so vielen Bühnen gestanden und das Publikum mit ihrer unverwechselbaren Stimme erfreut – heute braucht Opernsängerin und Gesangslehrerin Christiane Artisi nicht mehr im Rampenlicht zu stehen und den ganz großen Auftritt zu haben. Ihr genügt es, im Hintergrund zu wirken, jungen und älteren Talenten als Vocal Coach wertvolle Tipps zu geben, sie mental für das Scheinwerferlicht vorzubereiten.
Das hat die Verdenerin auch vor dem Start in die diesjährige Festspielsaison wieder getan. Gleich zwei Schützlinge, zwei Gesangsschülerinnen, hatte sie in ihrer Obhut. Vania Brendel, die im aktuellen Stück "Die Zündholzfrau" die Hauptdarstellerin Klara Libschütz verkörpert, und Ilenia Rebecca Marstaller, Maskenbildnerin und Bühnendarstellerin.
Auftritt als Nonne
Wenn Christiane Artisi den Verdener Domplatz betritt, von der Besuchertribüne auf das Probengeschehen auf der Bühne blickt, ist das für sie wie nach Hause zu kommen. Die "Domis", die seien schon eine ganz besondere Familie, betont sie. "2011 hatte ich mein erstes Coaching bei den Festspielen", erinnert sich Artisi. Damals habe sie mit einem Nonnenchor gregorianische Gesänge einstudiert. Drei Jahre später folgte schließlich ein Ausflug in die Barockzeit: "Da habe ich einen Händel-Chor dirigiert." Es sei schon eine Herausforderung gewesen, mit Laien mehrstimmig zu singen, erinnert sich die Verdenerin noch heute. Und 2017, da habe sie auf dem Platz einen Auftritt als Nonne gehabt und das berühmte "Ave Maria" zum Besten gegeben.
Ebenso wie bei den vergangenen Festspielen 2022 gibt es auch diesmal keine Gesangseinlage von ihr. Artisi ist mit sich und der Welt im Reinen, ruht in sich und vermittelt genau das auch ihren Schützlingen auf der Bühne – Gelassenheit. Weil Autor und Regisseur Hans König in diesem Jahr so viele eigene Lieder geschrieben und im Vorfeld per Audio-Datei an die Chormitglieder verschickt hatte, konnte sich die Verdener Opernsängerin also voll und ganz auf das Warm-Up, Tipps geben sowie das Coaching von Brendel und Marstaller konzentrieren.
Kaiserhymne und bekanntes Volkslied
Während Ilenia Rebecca Marstaller die bekannte "Kaiserhymne" vorträgt, gibt es von Vania Brendel ein Lied zu hören, das vermutlich gleich jeder Festspielgast mitsingen oder zumindest mitsummen kann, nämlich das bekannte Volkslied "Die Gedanken sind frei".
Marstallers musikalisches Genre ist eigentlich ein anderes, sie singt derzeit in der Bremer Band Unterneuland. Wie praktisch, dass Christiane Artisi auch regelmäßig Vocal Coachings in ihrem Gesangsstudio in Bremen gibt. Registerarbeit lautet das Zauberwort im Coaching. Normalerweise ist es Ilenia Rebecca Marstaller, die im Stück die Leiterin der Theatergruppe mimt, nicht gewohnt, so hoch zu singen, doch die Gesangspädagogin hat ihr gezeigt, wie sie ihre Resonanzräume öffnen kann. "Sie hat das wunderbar umgesetzt und ist sehr talentiert", schwärmt Artisi von dem Ausflug ihres Coachees in die Welt des klassischen Gesangs.
Vania Brendel bietet hingegen mit ihrer Sprechstimme gleich drei Lieder bei den Domfestspielen dar – zwei davon aus der Feder von Hans König: Neben dem für die Zündholzfrau so passendem "Phosphor und Schwefel" eben auch das Lied im großen Finale. Der Songtitel wird natürlich noch nicht verraten. "Ich habe mit Vania während der Coachings an der Technik und am Timing gearbeitet", verrät Artisi.
Wie im Wimmelbuch
Gerade das Zusammenspiel von Profis und Laien schätze sie so an den Domfestspielen. "Wenn ich auf die großen Bühnenszenen schaue, habe ich ganz oft das Gefühl, als würde ich in ein Wimmelbuch blicken", erzählt die Verdenerin lachend.
Vier Chöre leitet sie aktuell in der Stadt – den St.-Johannis-Chor, den Jungen Chor, den Kinderchor sowie den Kammerchor No Wonder. Seit dem Siegeszug der Castingshows im Fernsehen und vor allem seit der Pandemie habe das Interesse an einer klassischen Gesangsausbildung nachgelassen, weiß Artisi. Aber da sie nun einmal beruflich breit aufgestellt sei, würde sie sich auch genauso gerne der Stimmbildung im Musical und Pop widmen.
______________________________________
Raschelnde Kostüme: Die Cancan-Tänzerinnen sorgen für gute Laune auf dem Domplatz. FOCKE STRANGMANN
Aufbau, Staging und Proben sind abgeschlossen – monatelang haben die "Domis" auf ihren großen Auftritt hingefiebert. Wie Tänzerinnen aus Etelsen für einen Hingucker sorgen.
Von Susanne Ehrlich
Der Countdown läuft: Noch wenige Stunden bis zur Premiere der Verdener Domfestspiele an diesem Freitagabend, 25. Juli. Die vergangene Woche war ein einziger Endspurt mit Aufbau, Staging, Kostüm-, Masken- und Technikproben: Was sitzt perfekt, wo muss noch nachgebessert werden? Am Ende stimmte jedes Detail, und nun muss sich die "Domi-Familie" nur noch gegenseitig über die Schulter spucken.
Das Staging ist eine akribische Stellprobe, bei der alles, was in den vergangenen Monaten in der Intscheder Probenhalle eingeübt wurde, auf die riesige Bühne vor dem Dom übertragen werden muss. Von wo hereinkommen? Wie viele Schritte bis zum Auftrittsort? Wann und in welche Richtung abgehen? Denn die hundert Darsteller dürfen sich schließlich nicht im Weg stehen – das muss ablaufen wie gut geschmierte Zahnräder.
Von der Pickelhaube bis zur Feder
Chef-Requisiteurin Ilse Schubert ist immer vor Ort. "Da hinten müssen auch noch Leute abgehen", stellt Regisseur und Autor Hans König fest, und ruckzuck lässt sie einige Paletten herbeischaffen und verwandelt sie in improvisierte Treppenstufen. "Geht nicht – gibt's nicht", lacht ihre Teamkollegin Gabi Kracke.
"Wir tun einfach alles dafür, dass der Chef glücklich ist", drückt Schubert auf die Tube. Beste Stimmung also hinter den Kulissen. Viel komfortabler als in der letzten Produktion sei der Backstage-Bereich, bestätigen die Damen von der Requisite. Anstelle eines großen Sammelsuriums von Containern gibt es diesmal große Zelte für Requisite, Kostüm und Maske. Im Requisiten-Zelt ist alles gut sichtbar aufgestellt und einsortiert, und in der Mitte gibt es eine Werkstatt mit Kreissäge und vielem mehr. Das Kostümzelt besitzt großzügige Umkleidekabinen und viel Raum zum Hängen, sodass die Kleider sich nicht drängeln, nicht knittern und immer gut belüftet sind.
Vorn ist eine Ansammlung von Kopfbedeckungen zu sehen: Zylinder, Pickelhauben, imposante Damenhüte mit Federschmuck. Im Maskenzelt hat jede Mitarbeiterin des Schmink-Teams ihren eigenen Platz mit Spiegel und allem Zubehör. Viele Mitwirkende haben mehrere Rollen und müssen mehrmals umgeschminkt werden.
Stimme aus dem Off
Am Tag nach der Stellprobe wird es richtig ernst: Das gesamte Ensemble ist vor Ort, alle sind kostümiert und geschminkt, alle Mikros sind ordentlich befestigt und funktionstüchtig. Ton und Beleuchtung – alles muss stimmen. Nun soll nichts mehr wiederholt werden, das ganze Stück wird durchgespielt. Und das gleich an mehreren Abenden hintereinander.
Auch Hiltrud Stampa-Wrigge ist in voller Montur. Sie spielt eine Schauspielerin und sieht einfach klasse aus. Lampenfieber? Bisher noch Fehlanzeige: "Wir sind alle völlig entspannt", lacht die Leiterin des Künstlerischen Betriebsbüros.
Im aus dem Off gesprochenen Prolog hat hingegen der zehnjährige Intscheder Flemming Blohme seinen ersten Auftritt. Sein ausdrucksstarkes pantomimisches Spiel nimmt die ganze Bühne ein.
Frivole Tanzszenen
In der zweiten Szene gibt es einen festlichen Empfang für die bessere Gesellschaft Verdens. Eine Tanzgruppe sorgt für Aufsehen – der Cancan in all seiner Frivolität ist in der biederen Reiterstadt angekommen. Was für ein Spaß, die Tänzerinnen der Jazz-Contemporary-Gruppe des TSV Etelsen in den raschelnden Kostümen zu erleben. Ästhetisch, rasant, stimmungsvoll – das macht gute Laune.
Eine der Tänzerinnen ist die Tochter des Vereinsvorsitzenden, Layla Böse. "Mein Vater hat uns gefragt, ob wir das schaffen können, und dann haben wir aus unseren beiden Gruppen ein Team zusammengestellt." Die Idee, einen Cancan auf die Bühne zu bringen, habe bereits bestanden, und die Etelser Tänzerinnen beschlossen, die Herausforderung anzunehmen. Ihre beiden Trainerinnen Jana Fenske und Michelle Selinger entwarfen die Choreografie, und das Ergebnis wirbelt jetzt über die Bühne. "Das war eine spannende Zeit, aber ich denke, dass wir das gut umgesetzt haben", ist die junge Frau überzeugt.
Die prachtvollen Tanzkleider sind ein Gedicht: "Von denen bestand zuerst nur der Rumpf", verrät die Bremer Kostümbildnerin Christin Bokelmann. "Alles andere haben wir selbst gemacht." Überhaupt sind die Kostüme dieser Inszenierung eine Augenweide, abwechslungsreich, mit tausend Details ausgestattet und voll im Modetrend der Gründerzeit. "Ja, ich bin sehr zufrieden", erwidert Bokelmann auf das Lob, das von allen Seiten kommt. "Jetzt geht es an den Feinschliff. Aber erstmal bin ich richtig stolz auf mich und mein Team."
Neun Aufführungen bis August
Stinkend, spotzend und knatternd rollt ein leibhaftiges Automobil der ersten Generation vor die Bühne. Auf dessen Rücksitz wird Verdens Bürgermeister Münchmeyer vor Angst beinahe ohnmächtig. Die folgende Szene ist nichts für schwache Nerven: Eigenhändig nimmt Willibert Stendels Gattin Eugenia im Kreis der illustren Jagdgesellschaft eine Wildsau aus. Die liegt da bleischwer und so grauslich echt, als sei sie gerade erst erlegt worden. "Die war ganz flach, so wie ein Tigerfell", erklärt Schubert. Den Körper habe sie wieder zusammengenäht und ihn dann mit Sand ausgefüllt.
______________________________________
Kostümprobe: Die Darsteller freuen sich schon auf ihren großen Auftritt.
Von wegen Geschichtsstunde: Der Bremer Regisseur Hans König und sein Ensemble nehmen die Zuschauer auf eine lebendige Reise ins Jahr 1878 mit. Warum es im Festspielstück "Die Zündholzfrau" geht.
Von Susanne Ehrlich
Auf der riesigen Freilichtbühne im Schatten des mächtigen Sakralbaus gibt es bis zum 9. August ein großes Spektakel mit Musik, Tanz und Theaterdonner. Die Verdener Domfestspiele feiern an diesem Freitag, 25. Juli, Premiere. Der Bremer Autor und Regisseur Hans König ist auf der historischen Zeitleiste ein großes Stück vorangerückt: Sein neues Stück "Die Zündholzfrau" spielt im Jahr 1878.
Es erzählt die Geschichte um die Affäre eines erfolgreichen Theaterchefs und Unternehmers mit einer Arbeiterin seiner Streichholzfabrik. Im Spannungsfeld zwischen aufstrebendem Unternehmertum der Kaiserzeit und wachsendem Selbstbewusstsein der Arbeiterschaft wächst eine Liebe, die nicht sein darf.
Die überdachte Tribüne auf dem Domplatz bietet Platz für rund 1000 Zuschauer.
Mix aus Fakten und Fiktion
Auch wenn Hans König große Teile der Handlung sehr frei ausgemalt hat, fließen langwierige Archiv-Recherchen und tatsächliche Ereignisse jener Zeit in sein Stück mit ein. Trotzdem erwartet das Publikum alles andere als eine Geschichtsstunde, vielmehr zeigen König und sein über 100-köpfiges Ensemble ein springlebendiges und wild bewegtes Bild jener Zeit.
Die prachtvollen Kostüme der Bürgerfrauen mit bauschenden Krinolinen, Rüschen- und Federschmuck kontrastieren hart mit den grauen, schlaff herunterhängenden Kleidern und Schürzen der Arbeiterinnen. Herren in edlen Röcken und Westen, mit hohen Zylindern und all den Zeichen ihrer Würde stehen für die geschlossene Gesellschaft der Verdener Honoratioren.
Jeder der Charaktere bei den Domfestspielen ist akribisch ausgemalt. Die Dialoge geben mit bemerkenswerter Lebendigkeit die bornierte Attitüde der Privilegierten, die Unbarmherzigkeit des kapitalistischen Verdrängungskampfes und die aufkeimende Rebellion der bis dato völlig von ihren Männern abhängigen Frauen wieder.
Cancan darf nicht fehlen
Sehr aktuell ist der Disput über Fluch und Segen der neuen Technologie, die in Form eines Automobils knallend und stinkend über die Bühne rollt. Auch den kulturellen Wandel in dieser Zeit des Übergangs hat König im Fokus: Ein aufblühendes, zum Ärger der Obrigkeit höchst liberales Theaterwesen in der Reiterstadt Verden wird in Szene gesetzt. Die Zuschauer werden ein buntes "Theater im Theater" erleben. Außerdem gibt es Chorszenen und wunderschöne Tanz-Choreografien, bei denen der damals gerade ganz Europa erobernde Cancan nicht fehlen darf.
Die Kehrseite des ausschweifenden Wohllebens der Elite bildet das Elend der Zigarren-, Papier- und Zündholzarbeiterschaft in der Reiterstadt. Auch Bismarcks Sozialistengesetz, das jeden Widerstand unerbittlich zu bestrafen droht, kann die junge Arbeiterführerin Klara Libschütz und ihren Bruder Otto nicht davon abhalten, den Widerstand in der Zündholzfabrik zu organisieren und gegen das entrechtende Menschenbild der Klassengesellschaft zu kämpfen.
Eigentlich ist Willibert Stendel also ihr "Klassenfeind". Er ist zu großem Wohlstand und Einfluss gelangt, obwohl er eigentlich ein Feingeist ist und eine große Leidenschaft für das Theater hegt und seit Kurzem selbst eines besitzt. Er ist mit Leidenschaft in die Rolle des Impresarios geschlüpft und bringt für die Ereignisse in seiner Fabrik zum Ärger seiner verwitweten Mutter und seiner ehrgeizigen Gattin Eugenia nur noch geringes Interesse auf.
Seit seiner traumatischen Kindheit leidet Willibert unter regelmäßigen Panikattacken, die er so gut wie möglich zu verbergen versucht. Als Klara zufällig Zeugin seiner Verletzlichkeit wird, lernen sich die beiden näher kennen, und plötzlich wird Williberts Leben und Handeln völlig auf den Kopf gestellt.
Figur mit großer Fallhöhe
Vania Brendel spielt Klara Libschütz. "Endlich mal eine tolle Frauenrolle, mit der ich mich voll identifizieren kann", freut sich die Bremer Schauspielerin, deren Ehemann Andreas Brendel den Unternehmer Stendel spielt. Auch er findet seine Rolle sehr spannend: "Willibert ist eine vielschichtige Figur mit großer Fallhöhe. Zum einen ist er angesehen, reich und mächtig, zum andern aber auch sehr zerbrechlich."
Ein Ehepaar spielt auf der Bühne ein heimlich verliebtes Paar mit dem dazugehörigen Knistern und allem drum und dran. "Ich kann das sofort wieder hervorholen, so verliebt in sie zu sein", bekennt Brendel. Und seine Frau Vania setzt hinzu: "Ich bin ja immer noch verliebt in ihn, da kann ich das gut spielen."
______________________________________
Noch können Ute Scholz und Björn Emigholz die Füße hochlegen. Doch bald wird es ernst.
In der Maske schminken sie um die Wette. Warum die Frisuren der Bourgeoisie-Damen eine Herausforderung für die Frisuren-Werkstatt darstellt.
Von Marie Lührs
Manchmal zucken ihnen noch im Halbschlaf die Füße, als würden sie im Bett zaghaft den Walzer üben wollen. Und dann am helllichten Tag geistert wieder diese eine Melodie durch den Kopf, die ruckzuck zum Summen verführt. Die Proben für die Domfestspiele, in denen Tanz und Musik große Rollen spielen, lassen Ute Scholz und Björn Emigholz auch dann nicht los, wenn sie sich eigentlich eine Auszeit nehmen könnten. Schon von Anfang an sind sie dabei und doch stehen sie in diesem Jahr erstmals beide auf den Brettern, die die Welt bedeuten.
Für ihre erste Rolle auf der Bühne wird Scholz gleich im doppelten Sinne zur Schauspielerin. Denn sie ist Teil einer böhmischen Schauspielgruppe. "Es gibt also Theater im Theater", sagt sie. Immer wieder habe die Gruppe kleine Auftritte während des Stücks. Viel Text pauken muss die Schauspieldebütantin allerdings nicht. Knapp anderthalb Sätze stehen für sie im Textbuch. Und doch gibt es viel auswendigzulernen. Denn zahlreiche Abläufe und Bewegungen über die Bühne müssen sitzen. Denn dort gilt es, im rechten Moment mit verschiedenen Requisiten, aber auch Menschen zu interagieren. "Ich habe jetzt einen ganz anderen Blick auf Schauspieler", sagt Ute Scholz, und eine gehörige Portion Respekt.
Zügiger Rollenwechsel
Björn Emigholz kennt die Herausforderungen des Schauspielerdaseins allerdings schon. Von Anfang an schlüpfte er in verschiedene Rollen, war schon Domprediger, Zuhälter, Räuberhauptmann und Henker. Im aktuellen Stück verkörpert er gleich zwei sehr unterschiedliche Charaktere. Damit es zu keiner Verwechslung kommt, müssen Kostüm und Maske ihn für die Rollenwechsel optisch verwandeln.
Vor einigen Jahren, erinnert sich Emigholz, habe er einen Luden mit sehr ungepflegtem Gebiss spielen müssen. Damit das möglichst authentisch rüberkam, ging es für ihn vorher noch extra zum Zahnarzt. Der nahm einen Abdruck und fertigte ein maßgeschneidertes Kunstgebiss an, das bei der Aufführung insbesondere den jüngsten Zuschauern einen kleinen Schrecken einjagte. Die außergewöhnliche Requisite liege noch im Keller und wenn es nach seiner Ehefrau geht, liegt sie da auch genau richtig. "Ich konnte ihn mir mit dem furchtbaren Gebiss gar nicht anschauen", erinnert sie sich schaudernd.
Ohne eine ordentliche Schicht Schminke im Gesicht sehe man im Scheinwerferlicht wie tot aus, verrät Emigholz. Wer geschminkt wird, bekomme erst eine Grundierung. "Dadurch verschwinden die Gesichtszüge, das Gesicht wird zur Leinwand", weiß Scholz. Denn in der Vergangenheit hat sie sich schon mehrfach in der Maske der Domfestspiele engagiert. Mit einem Alltags-Make-up sei das also gar nicht zu vergleichen.
Apropos Alltag: Den Takt dafür geben momentan die Proben vor. Für das Paar, das so eng mit den Festspielen verbunden ist, ist das allerdings kein Problem. Denn beide haben ihr Berufsleben inzwischen hinter sich. Andere "Domis" würden sich rund um die Festspielzeit extra Urlaub nehmen, um vor allem die späten Vorstellungen über die Bühne bringen zu können.
Ganz neue Erfahrung
Auch wenn es ihre Premiere als Schauspielerin ist – vor vielen Menschen auf einer Bühne zu sprechen, ist für Ute Scholz eigentlich nichts Ungewöhnliches. "Mir macht es nichts aus, vor 2000 Leuten auf einer Bühne auf Englisch eine Rede zu halten", blickt sie auf ihre Tätigkeit als Präsidentin von Zonta International zurück. Aber nun bei einer Aufführung nur einige Worte vor Publikum zu sprechen, das sei schon eine ganz andere Nummer und ganz schön aufregend.
Über 70 Darstellerinnen und Darsteller stehen in diesem Jahr auf der Bühne. Kein Wunder also, dass ebenda mehr passiert, als auf den ersten Blick zu erfassen ist. Es lohne sich, auch auf das Geschehen im Hintergrund zu achten, rät Scholz. Und wer die Gelegenheit habe, solle sich das Stück gleich mehrfach anschauen. Denn beim ersten Durchgang entgehe den Zuschauern gerne das eine oder andere Detail. "Beim zweiten Mal sieht man das Stück mit ganz anderen Augen", betont sie.
Einmaliger Aktionismus
Der Ursprung der Domfestspiele liegt übrigens in einer kleinen Fechtszene. Bei einem Empfang griffen der spätere Domfestspiel-Regisseur Dieter Jorschick und Emigholz zu Unterhaltungszwecken zur Waffe. Die kurze Theatereinlage kam beim Publikum bestens an. Die Kaufmannschaft trieb wenig später die Pläne für die Domfestspiele innerhalb kürzester Zeit voran, der Stadtrat tagte außerplanmäßig und der Verein, der bis heute das Freilichtspektakel auf die Beine stellt, entstand. "Damals gab es einen ganz anderen Aktionismus", blickt Scholz zurück, die in den Anfangsjahren wiederholt den Vorsitz übernahm. 1998 feierte das Stück "Das Geheimnis des Bischofs von Verden" aus der Feder und unter Regie von Dieter Jorschik Premiere. Pünktlich zur Weltausstellung im Jahr 2000 gab es dann eine Neuauflage.
Damals noch Stadtarchivar und Leiter des Domherrenhauses, stand Emigholz mit seiner historischen Expertise Jorschik zur Seite, wenn es darum ging, die Handlung authentisch auf die Bühne zu bringen. Noch heute hilft er, wenn es um geschichtliche Fragen geht.
In wenigen Wochen ist sie dann wieder vorbei, die intensive Domfestspielzeit. Doch Emigholz hat schon das nächste Projekt vor Augen: Die deutschen Karatemeisterschaften finden im September in Verden statt. Scholz hingegen freut sich vor allem auf Freizeit und vielleicht mal wieder eine kleine Reise.
______________________________________
Die Kulisse vor der Kulisse: Der Dom rückt in den Hintergrund, während die mächtige Festspielbühne entsteht. © Niemann
Ilse Schubert bemalt die Fässer, die die Chemikalien für die Zündholzfabrik enthalten. © Niemannn
Packen gemeinsam an: Michaela Schikorra, Ricarda Müller und Carolin Cordes (v.l.) vor der Bürgertum-Kulisse. Schikorra und Müller spielen auch mit, während Cordes in der Maske mitarbeitet. © Niemann
Von Christel Niemann
Bevor es die Premiere in rund einer Woche auf dem Spielplan steht, gibt es für die Freiwilligen der Domfestspiele Verden noch einiges zu tun. Aktuell sind sie dabei beschäftigt, das Areal vor dem Dom in eine Bühne verwandeln.
Verden – Baustelle statt Schauspielstelle: Seit einigen Tagen wird auf der Freispielfläche am Dom gebohrt, gehämmert, getackert, geschraubt und gemalt und mit riesigen Stellwänden und anderen Lasten hantiert. Bis zur Generalprobe Mitte kommender Woche müssen die Kulissen und Requisiten für die Domfestspiel-Inszenierung „Die Zündholzfrau“ fertig sein. Und bis dahin, so Ilse Schubert und Henning Diers – sie verantworten die Bereiche Requisite und Bühnenbau – werde sicher noch nonstop gearbeitet. Auch die Profis für Gastronomie, Licht- und Tontechnik sind Anfang der Woche angerückt, denn bis die rund 100 Darsteller die Besucher der Freilichtinszenierung vor der Kulisse des Verdener Doms begeistern können, müssen auch sie noch vieles aufbauen und installieren.
Als spannend schildert Diers bereits den Transport der Bühnenteile mit Trecker und Anhänger von Mehringen, wo er die Kulissen angefertigt hat, zum Festspielplatz am Dom. „Die beiden betagten Trecker mussten bei jeder kleinen Anhöhe ganz schön schnaufen. Es hat ja alles ordentlich Gewicht.“ Inzwischen sind die von ihm bemalten Teile montiert, die Wände zusammengeschraubt und die hölzerne Treppe eingebaut. „Alle Helfer glänzen mit ihrer Leistung und dafür bin ich sehr dankbar“, sagt Diers, der so viel ehrenamtliche Unterstützung gar nicht erwartet hat. „Die meisten sind auch noch als Schauspieler oder hinter den Kulissen in die Festspiele involviert. Und stecken jetzt auch noch beim Aufbau viel freie Zeit und Arbeit in das Projekt“, schwärmt er.
Alle werkeln Hand in Hand. Auf der linken Bühnenseite, dem Bereich der Zündholzfabrik, ist an diesem Vormittag Carolin Cordes mit Pinsel und Farbeimer zugange, während rechts unter den Händen von Michaela Schikorra und Ricarda Müller das Bühnenbild für das gehobene Bürgertum entsteht. Spricht man Akteure an, ist ihre Begeisterung spürbar und die Emotionen für das Projekt kochen hoch. Was hier entsteht, ist mehr als Theater: Es wird Teil des eigenen Lebens, der eigenen Geschichte, wie die drei Frauen bestätigen.
Bei Chef-Requisiteurin Ilse Schubert dreht sich ebenfalls alles um dieses große, gemeinsame Projekt und auch ihre Nervosität steigt. „Es macht viel Arbeit, ein Fulltime-Job, aber alle begegnen sich mit Respekt und gegenseitiger Unterstützung. Der Zusammenhalt wird unter den Mitwirkenden an den Domfestspielen nicht nur beschrieben, er wird gelebt“, sagt Schubert, die den Bereich Requisite bereits zum fünften Mal und immer unter Regisseur Hans König verantwortet.
Was macht diese Arbeit für sie so besonders? „Ich denke, dass es neben der großartigen Gemeinschaft auch die Tatsache ist, dass ich zwar Druck, aber keinen Stress erlebe.“ Bei den Domfestspielen könne sie ihre Kreativität ausleben und ihr Organisationstalent einbringen. Auch ihr Gefühl für Harmonie sei gefragt. Viel habe sie von einem früheren Bühnenbauer gelernt, berichtet Schubert weiter. „Ich glaube, er hieß Hesse. Und er hat mir viele Tricks verraten, die ich, seitdem ich die Verantwortung für die Requisite übernommen habe, auch anwende.“
Sie ist immer bei den Proben dabei. „Anders wäre es mir auch gar nicht möglich mitzubekommen, was der Regisseur für seine Arbeit überhaupt benötigt, was für Vorstellungen und Ansprüche er hat.“ Für Ilse Schubert werden es – sofern sie sich nicht doch noch umstimmen lässt – die letzten Domfestspiele sein, für die sie sich den Hut der Requisite aufsetzt. „Ich bin jetzt 70, bis zur nächsten Spielzeit kommen noch drei Jahre hinzu. Irgendwann muss halt Schluss sein.“ Gedanken, erstmal nur ins zweite Glied zurückzutreten, hat sie nicht. „Ein bisschen mitmachen geht bei den Domfestspielen nicht. Wenn man den hier Verantwortlichen den kleinen Finger reicht, wird unwillkürlich die ganze Hand genommen“, sagt sie und lacht. Bei den Domfestspielen gerate man unwillkürlich in einen Flow, das werden schon beim ersten Treffen spürbar. Sie beschreibt es als ein lebendiges Miteinander, das man in dieser Form nur selten erlebe. Ilse Schubert: „Man wird von einem Spirit beseelt, der einen mitreißt. Domfestspiele aktiv, das geht nur ganz oder gar nicht.“
______________________________________
Wer fleißige Hobbyhandwerker sehen will, muss in diesen Tagen nur auf den Domplatz kommen.
Sie bohren und schrauben um die Wette. Warum das Bühnenbau-Team um Henning Diers sogar freiwillig auf Urlaub und Ferien verzichtet, um den Domplatz für die Festspielzeit herzurichten.
Von Jörn Dirk Zweibrock
Nein, mit der motorisierten Kutsche will Henning Diers nicht selbst nach Verden fahren. Aufgrund der fehlenden Straßenzulassung wäre das einfach zu riskant. Ein saftiges Bußgeld und obendrein noch ein Punkt in Flensburg müssten ja nun wirklich nicht sein. Also verladen Diers und sein Bühnenbau-Team, das auch für Großrequisiten wie die Kutsche zuständig ist, das Gefährt ganz bequem per Trailer, sprich Anhänger, von Mehringen in die Domstadt. "Bei fünf Stundenkilometern Spitze sind wir bestimmt weit über drei Stunden unterwegs", rechnet der Chef-Bühnenbildner und -bauer vor.
Unter dem weißen Pavillon auf dem Domplatz soll "das erste Auto Verdens" also während der Festspielzeit Unterschlupf finden. "Die Kutsche wird bestimmt ein beliebtes Selfie-Motiv", mutmaßt Diers. Im Vorfeld wurde akribisch vermessen, dass das Gefährt auch ja in die schmale Gasse zwischen Besuchertribüne und Bühne passt. Auf der rund 800 Zuschauer fassenden Tribüne sitzt bereits Volker Schwennen, Produktionsleiter der Verdener Domfestspiele, Probe.
Volker Schwennen sitzt auf der Tribüne schon einmal Probe. Foto: Fokce Strangmann
______________________________________
Von der Intscheder Mehrzweckhalle geht es für die Darsteller nach den probenfreien Tagen direkt auf den Verdener Domplatz. Michael Galian
Bei der letzten Probe in Intschede verwandeln sich die Darsteller wie von Zauberhand in andere Charaktere. Warum die Kostümwerkstatt wieder ganze Arbeit geleistet hat.
Von Susanne Ehrlich
Was für eine schmucke Mannsperson! Ulanen-Hauptmann Ortmann präsentiert sich in edler Ausgehuniform mit dem großen Busch auf dem Helm. Bei der letzten Kostümprobe für die Verdener Domfestspiele in der Intscheder Mehrzweckhalle muss schon alles fertig sein – außer dem Schuhwerk, denn Straßenschuhe sind in der Halle verboten. Berthold Eckhard hilft sich vorerst mit langen strumpfartigen Ledergamaschen, die wie Stiefel wirken.
Richtig warm ist ihm geworden: "Der Helm ist so anstrengend, darunter ist es ziemlich heiß." Und damit nicht genug: "Ich habe mir extra einen Vollbart wachsen lassen. Der soll kaiserlich-preußisch wirken. Mal sehen, vielleicht werde ich ihn sogar noch zwirbeln." Auch Dirk Aue hat sich für die Rolle des hartherzigen Richters Wilhelm Rabelius einen stattlichen Bart stehen lassen und strahlt in gehobenem Chic Amtswürde aus: "Der Bart und das Kostüm helfen mir dabei, mich in meine Figur hineinzuversetzen. Ist zwar ein bisschen schwitzig hier drin, aber das nehme ich gern in Kauf."
Verwandlung im Ankleideraum
Neu-Bartträger sind auch "Fabrikant" Horst Menzen und "Theaterdirektor" Ralf Böse. Menzen fühlt sich großartig im edlen Zwirn mit Weste und allem drum und dran: "Man geht ganz anders, man verändert sozusagen seine Persönlichkeit", stellt er fest. Alles sei perfekt angepasst: "Wirklich ganz tolle Arbeit vom Kostüm-Team." Sehr lustig sehen dazu seine sportlichen Turnschuhe aus: "Keine Sorge, auf der Bühne werde ich schicke schwarze Schuhe tragen."
Böse ist in dezent gemustertes braunes Wollgarn gekleidet, und das in elegantem, körpernahem Schnitt. Kratzt das denn nicht? "Ach was, ich habe ja noch was drunter an, aber es wird wirklich ganz schön heiß."
Im Ankleideraum wird man Zeuge einer spannenden Verwandlung: Luisa Bargmann konnte erst später zur Probe kommen und hat die ersten Szenen "in Zivil" gespielt. Blitzschnell wird aus der modernen Lehrerin im zartgrünen Sommer-Dress die elegante Fabrikantengattin Roswita Schneid. Rein in die Unterröcke, das schwere Kleid darüber, hinten alles festgehakt – und schon sitzt es tadellos: Die Kostümwerkstatt hat mal wieder fünf Sterne verdient.
Hocker als fahrbarer Untersatz
Nun aber schnell zurück in die Halle. Gerade wird den Verdener Honoratioren der allererste fahrbare Untersatz seiner Zeit vorgestellt – symbolisiert durch vier runde, von den Insassen vor sich hergetragene runde Hocker. Das ist witzig, und man darf sehr gespannt sein, wie sich später das echte Töfftöff auf dem Platz ausnehmen wird.
Die Lobrede auf die moderne Technologie muss Frau Bürgermeisterin Münchmeyer halten, denn dem kränklichen Stadtoberhaupt ist bei der rasanten Fahrt unwohl geworden. "Gattin" Michaela Rampp dagegen sprüht vor Lebendigkeit. In ihrem Kostüm fühlt sie sich richtig wohl: "Mein Kleid ist überhaupt nicht unbequem, und ich liebe es, wie der weite Rock beim Gehen immer mitwippt."
Während mitten in der Halle Szene für Szene abläuft, huschen am Rand immer wieder Arbeiterinnen in Braun und Beige und mit tausenderlei Accessoires aufgebrezelte Bürgerfrauen in raschelnden Röcken vorüber, und es ist frappierend, wie die aufgebauschten Festkleider der edlen Damenwelt mit den schlaffen Alltagskleidern und Schürzen der Arbeiterinnen kontrastieren.
Umziehen ist an der Tagesordnung
Draußen werden derweil eifrig Kleider gewechselt. Allein 30 fesche Soldatenuniformen hält Marga Prange bereit. "Einige Darstellerinnen müssen sich dreimal umziehen: Sie sind Arbeiterinnen, Soldaten und Dienstbotinnen oder Bedienung im Lokal." Angela Klimas ist eine der Verwandlungskünstlerinnen: "Ich muss in Windeseile von meinem Arbeiterinnen-Kostüm in die Uniform schlüpfen. Damit verändert man sofort seine Stellung in der Gesellschaft." Gar nicht so leicht sei es für die Frauen, Soldaten zu sein und mit Waffen zu hantieren. Die Arbeiterinnen zu verkörpern, sei viel einfacher: "Wir sind erschöpft, arbeiten 14 Stunden am Tag. Viele sind krank, und wir zeigen deutlich, dass wir nicht mehr können. Unsere Kostüme sind grau und hässlich und helfen uns dabei, dass wir uns auch so fühlen."
Besondere Hingucker sind die kapriziösen Garderoben der Theatertruppe. Mae Bührmann ist der Schauspieler Schissomir Frotz, der in seinem "Stück im Stück" ein Kleid mit vielen Rüschen und anderen aufwendigen Accessoires trägt: "Ich bin darin total verwandelt, aber es passt auch irgendwie zu mir." Man fühle sich sozusagen gehoben, "ein bisschen abgedreht, ein bisschen Rampensau".
Hiltrud Stampa-Wrigge muss in der Rolle der Schauspielerin Ludmilla Esterhazy über dem steifen, eleganten Kostüm sogar noch einen Pelz tragen: "Davor habe ich schon ein bisschen Angst", erzählt sie lachend.
Kleid mit "Wow-Faktor"
Den vielleicht größten "Wow-Faktor" hat das smaragdgrüne Galakeid der Fabrikantengattin Eugenia alias Franziska Mencz, das im Sonnenschein nur so glänzt. "Damit steige ich gleichsam in meine Rolle hinein", erklärt sie. Die Korsage zwinge sie, sich kerzengerade zu halten. "Ich werde auch einen opulenten Hut tragen, und mit ihm hält man dann auch den Kopf anders."
In seiner Polizei-Uniform mit Pickelhaube wird der 17-jährige Gymnasiast Chris Müller zur Respektsperson: "Darin fühle ich, ich habe Macht, ich kann alle herumkommandieren. Das macht Spaß." Sich einfach durch die Masse durchzudrängeln, die Leute beiseite zu schubsen, falle ihm auf einmal ganz leicht, sagt er und demonstriert das direkt mit einem kleinen Rempler.
______________________________________
Henning Diers beim Malern des Torbogens. © Niemann, Christel
Von Susanne Ehrlich
Henning Diers bringt die Epoche der Industrialisierung auf die Bühne. Seine Kulissen zeigen den Kontrast zwischen Arm und Reich. Der Torbogen verbindet Welten.
Nicht nur die Darsteller der Domfestspiele haben in diesen Tagen viel zu tun, auch Bühnenbauer Henning Diers gönnt sich kaum eine Pause. Zurzeit bemalt er drei jeweils 25 Quadratmeter große Holzplatten, die in der Mitte einen Torbogen ziert, den links eine düstere Industrieanlage mit Schornstein und rechts eine schmucke Häuserzeile sowie eine gut bürgerliche Wohnstube flankieren. Alles, was Diers für diese Kulisse braucht, sind riesige Holztafeln, Leinwände, Pinsel, Farben und gutes Gespür – schließlich muss seine Arbeit Autor und Regisseur Hans König überzeugen. Noch liegen einige Aufgaben vor Diers, bis am 25. Juli die Premiere auf der Freilichtbühne am Verdener Dom beginnt.
Wenn Henning Diers, der Bühnenbauer der Domfestspiele, arbeitet, bleibt kaum eine Ecke sauber. „Ich kann nicht arbeiten, ohne Dreck zu machen“, lacht er und streicht sich die graue Farbe an den Händen unbekümmert an seinen Shorts ab. Sein Hang zum Kleckern ist einer der Gründe, warum er zurzeit lieber draußen arbeitet.
Ich kann nicht arbeiten, ohne Dreck zu machen.
Henning Diers, Maler
Aktuell bemalt Diers mehrere großflächige Kulissenteile mit Motiven, die jene Distanz erkennen lassen, die anno 1876 zu Beginn der Industrialisierung zwischen dem einfachen Volk und der höher gestellten Bourgeoise geherrscht hat. „Die Motive spiegeln den Klassenkampf. Rechts ist die Atmosphäre hell und sauer, links dagegen schmutzig grau. Für den Torbogen, der mittig zwischen den beiden Bereichen stehen wird, werde ich eine neutrale Farbgestaltung wählen. Er ist das verbindende Glied und steht für die Chance, dass sich beide Bereiche annähern und im besten Fall sogar verbinden könnten“, erklärt Diers seine künstlerischen und inhaltlichen Intentionen. Für den Bühnenbildner, der zugleich auch Bühnenmaler ist, sind Vorstellungskraft und Fantasie zentrale Elemente seiner Arbeit. Und was zunächst nur als dahingeworfene Skizze auf Papier existierte, wird auf dem Hof eines Freundes in Mehringen zur großen Theaterkulisse – zuweilen verrückt und oft aufwendig.
Als er das Bühnenbild zum ersten Mal mit Hans König besprochen hat, habe er gleich gewusst, dass dessen Ideen für ihn viel Arbeit bedeuten würden, sagt Diers. Doch das schreckte ihn nicht ab, ganz im Gegenteil. Besonders diese Herausforderungen seien es doch, die den Job spannend machten. Ein Bühnenbild gäbe dem Publikum Hinweise auf Zeit sowie Ort der Handlung und skizziere – wichtig für Henning Diers – auch Seelenzustände. „Meistens klappt das“, sagt er, der sich dafür im Spannungsfeld zwischen Wunsch, Wirklichkeit und Kosten bewegt.
So spiegelt die Holztafel, an der Diers gerade arbeitet, deutlich die düstere Stimmung der Fabrikarbeiter der Zündholzfabrik wider. „Nicht schön, oder?“, fragt Diers, in dessen Arbeit auch viel Wissen über die Epoche, in der das Stück spielt, steckt. Und viel Vorstellungskraft, die er mit denen des Regisseurs in Einklang bringen muss, damit Bühne, Kostüme und Inszenierung für ein geschlossenes Bild ineinandergreifen. Manchmal habe der Regisseur dann auch völlig „andere Bilder“ als sein Bühnenbauer im Kopf – letztes Wort hat in solch einem Fall immer König. Damit sich seine Arbeit mit der Realität des Spielorts verträgt, muss Diers natürlich auch die Abmessungen der Freilichtbühne am Dom einkalkulieren und genau über die technischen Möglichkeiten informiert sein.
Eine große Aufgabe ist auch der Transport der Kulisse zum Veranstaltungsort, der nur mit Trecker und Anhänger vonstatten gehen kann. Damit die Fahrt überhaupt gelingen kann, zerlegt Diers seine Arbeit ins gesamt 13 Einzelteile, die er dann im Schatten des Verdener Doms wieder zusammenfügt.
Dass die Welt, die er für die Domfestspiele nun bereits zum zweiten Mal erbaut, schon nach wenigen Wochen ihre Schuldigkeit getan haben wird, tut dem Bühnenbauer zuweilen ein wenig weh. Denn ist die aktuelle Inszenierung „Die Zündholzfrau“ am 9. August abgespielt, hat die Kulisse ausgedient – und viel Arbeit, Grübeleien und Ideen werden im Nirwana der Domfestspiele verschwinden.
______________________________________
Dennis Gläß (r.) und Beate Patolla (l.) übergeben Volker Schwennen (2. v. r.) und seinen Domis ein Sparschwein mit Finanzspritze. Foto: FOCKE STRANGMANN
Viel Zeit ist nicht mehr bis zu ihrem großen Auftritt. Doch damit die Stimmung bei den kräftezehrenden Proben gut bleibt, gibt es beim Domfestspielteam ein Patent-Rezept.
Von Susanne Ehrlich
Einmal richtig Schwein haben – dieses Glück durften sich Regisseur und Autor Hans König, Vereinsvorsitzender Ralf Böse und Produktionsleiter Volker Schwennen teilen. Anstelle des gewohnten symbolischen Schecks mit fünfstelligem Aufdruck überreichten Dennis Gläß, Vorstandsvorsitzender der Kreissparkasse Verden, und Public Relations-Leiterin Beate Patolla diesmal den kugelrunden roten Glücksbringer.
In dessen Bauch schien auch noch reichlich Platz zu sein: "Falls Sie hier und da noch eine Spende brauchen", sagte Patolla lachend, und Schwennen wollte das auf keinen Fall ausschließen.
Die meisten Szenen sitzen
"Inzwischen sind die meisten Szenen schon auf 100 Prozent, beschrieb König den Probenfortschritt vor dem Endspurt. "Da sind wir jetzt schon ziemlich gut." Worauf es nun noch ankomme, sei das Üben der flüssigen Abläufe: "Das ist später auf dem Platz unser Nadelöhr." Jeder müsse bei jedem Auftritt genau wissen, wo er hinmüsse, von wo er auftrete und in welche Richtung er abgehe – immerhin müssten sich in einigen Szenen bis zu 100 Menschen den Platz auf den verschiedenen Bühnen-Ebenen teilen.
Für den Darsteller der historischen Hauptfigur, Willibert Stendel, war die lange Probenphase mit so vielen Menschen eine neue Erfahrung. "Es gab in den einzelnen Szenen viele Wiederholungen, aber es war auch immer spannend, die Fortschritte direkt beobachten zu können", erzählt Andreas Brendel. "Einmal noch ist bei unseren Proben das geflügelte Wort", ergänzt König lachend, der sich immer wieder darüber freut, wie viel Bereitschaft die Domis zeigen, diesen großen Zeitaufwand auf sich zu nehmen. Auch Vania Brendel, die die Arbeiterführerin Klara Libschütz spielt, erlebt zum ersten Mal eine Produktion von dieser Größenordnung: "Es ist faszinierend, wie viele Menschen hier einbezogen sind. Das ist manchmal wie ein riesiges Wimmelbild."
Verdens größtes ehrenamtlichen Projekt
Und diese Beschreibung ist ziemlich treffend: "Mit allen Teams hinter der Bühne werden mehr als 150 Menschen auf dem Platz sein", präzisierte Schwennen. Beeindruckt stellte Bürgermeister Lutz Brockmann fest: "Das ist das größte ehrenamtliche Projekt, das Verden hat."
Natürlich wurde auch über das Wetter gesprochen. Völlig klar sei, dass der Schutz der geliehenen historischen Kostüme Vorrang habe. "Aber Plastik-Umhänge wird es in dieser Produktion auf keinen Fall geben", betonte König. "Als ich unserer Kostümbildnerin Christin Bokelmann von diesen Capes erzählt habe, war sie richtig verstört, und ich musste sie dann rausführen", erzählte er. Stattdessen werde man diesmal zur Not das Spiel unterbrechen
______________________________________
Dennis Gläß (r.) und Beate Patolla (l.) von der Stiftung der KSK überreichen 10 000 Euro an Hans König, Volker Schwennen und Ralf Böse für die Domfestspiele. © Niemann, Christel
Von Christel Niemann
Die Verdener Domfestspiele feiern bald Premiere. Bürgermeister Brockmann sieht darin ein starkes Zeichen. Das Stück erzählt von einer faszinierenden Figur.
Die Stiftung der Kreissparkasse Verden ist dem Kreis von Kulturförderern zugehörig, die die Verdener Domfestspiele seit Beginn mit einer namhaften Summe unterstützen. Keine Frage, dass die Stiftung des Kreditinstituts auch die kommende zehnte Inszenierung „Die Zündholzfrau“ erneut finanziell fördert, die am Freitag, 24. Juli, auf der Freilichtbühne am Dom Premiere feiert. In diesem Jahr sind rund 100 Darsteller - mehrheitlich Laien – aktiv in das Stück involviert, das aus der Feder von Hans König stammt, der auch zum fünften Mal die Regie der größten regionalen Freilichtspiele verantwortet.
Es sei Solidarität und ausdruckstarkes Zeichen und ein echter Mutmacher für die vielschichtige Kulturarbeit in Verden, wie es Bürgermeister Lutz Brockmann beschrieb. „Auch wir als Stadt sind gerne und mit viel Freude dabei und natürlich ist uns bewusst, dass die Domfestspiele nicht nur einen schauspielerischen, sondern auch einen finanziellen Kraftakt bedeuten“, sagte der Rathauschef.
Von Regisseur Hans König bekamen die Anwesenden noch eine kleine Einführung in das Stück und in den aktuellen Stand der Proben, die seit Monaten in der Intscheder Sporthalle stattfinden. Dort sind laut König nur noch drei Durchläufe geplant, bevor es am 18. Juli zu den finalen Proben auf den Domplatz geht. „Die bisherigen Durchläufe liefen gut“, sagte König. Er blicke jedenfalls zufrieden auf die bislang bereits gemeisterten Herausforderungen in Teamleistung zurück und entsprechend entspannt auf alles Kommende. Zum Stück meinte er, dass es für ihn reizvoll sei, den Verdenern von ihrer eigenen Geschichte anno 1878 und von einem Mann zu erzählen, der tatsächlich in Verden gelebt und viel erreicht habe und doch weitgehend unbekannt sei.
„Die Recherchen zu ihm gaben auch gar nicht nicht so wahnsinnig viel her. Ich habe alles an Informationen aufgesaugt und was herausgefunden wurde, kommt in dem Stück auch vor. Eine spannende Persönlichkeit sei dieser Stendel gewesen - Zündholzfabrikant, Tütenproduzent, Verlagsinhaber und Theaterbesitzer zugleich. König: „In seinem Leben – er soll verarmt verstorben sein - sind sicher so viele Dinge passiert, dass es für zwei Leben gereicht hätte.“
Zudem sei die tiefgreifende Thematik von „Der Zündholzfrau“ hochaktuell, die Diskrepanz, im Stück dargestellt durch die gesellschaftlichen Unterschiede der Arbeiterklasse und der Bourgeoise, sei auch heute ein Thema und sicher kein geringes, wenn auch auf andere Art und Weise. „Wenn die Zuschauer das erkennen und mitfühlen, gewinnt das Stück immens an Aktualität.“
Als die Frage auftauchte, warum sich die Domfestspiele diesmal nicht um einen mittelalterlichen Stoff ranken, antwortete König: „Die Domfestspiele sind nicht auf das Mittelalter gebucht, außerdem haben bereits mehrere der vorausgegangenen neun Inszenierungen in anderen Epochen gespielt.“ Und lachend fügte er hinzu: „Ich gebe zu, dass ich manches mittelalterliche Kostüm einfach nicht mehr sehen konnte. Aber dafür ist ja jetzt ein motorisiertes Pferd dabei.“
Apropos Kostüme: Hier wussten sowohl die beiden professionellen Schauspieler als auch Laiendarsteller Ralf Böse zu berichten, wie wirklichkeitsbezogen es für eine Rolle ist, im Bühnenoutfit zu proben. „Man wird ein anderer Mensch“, sagte Böse und Vania Brendel beschrieb, dass es einen nochmals gehörig pusche, im Kostüm auf der Bühne zu stehen. Auch dem Schuhwerk komme eine besondere Bedeutung zu. „Ich trage in meiner Rolle Schnürer mit Ansatz und lange Kleider. Trage ich das, bewege ich mich anders, und führe die Rolle auch anders aus. Man sagt doch auch, Kleider machen Leute, und genau so ist es auch.“ Ihr Mann bestätigt diese Wirkung, die sich auch wiederhole, wenn endlich im Bühnenbild geprobt werde.
______________________________________
Blick in die Ostertorstraße. Dort, wo jetzt die Volksbank steht, war einst das Elternhaus von Willibert Stendel. Über den umtriebigen Verdener Zündholzfabrikanten haben Karin Köster (l.) und Sabine Lühning einiges herausgefunden. © Preuß, Katrin
Von Katrin Preuß
Sabine Lühning und Karin Köster bieten Führungen zur „Zündholzfrau“ an.
Verden um die Jahrhundertwende: Die Industrialisierung schreitet langsam voran, aber das Straßenbild wird noch immer von Pferdekutschen beherrscht. Zwischen Verden und Kirchlinteln pendelt sogar zweimal am Tag ein Pferde-Omnibus. Zu später Stunde, wenn der Nachtwächter seine Runden dreht, sorgt Gaslicht für Beleuchtung. 8 600 Einwohner zählt das Städtchen an der Aller. Außerdem bevölkern 1 200 Schweine, 500 Ziegen und 400 Kühe den Altstadtkern. Klare Sache: Die beiden Stadtführerinnen Karin Köster und Sabine Lühning haben einiges zusammengetragen über die Zeit, als jemand wie „Die Zündholzfrau“, Namensgeberin der aktuellen Domfestspiel-Inszenierung, in Verden gelebt haben könnte.
Wenn „Die Zündholzfrau“ am Freitag, 25. Juli, Premiere feiert, dann kommt mit dem Stück aus der Feder von Hans König ein neuer Teil Verdener Geschichte auf die mächtige Freilichtbühne am Dom. Denn den Streichholz-Fabrikanten Willibert Stendel, eine der Hauptfiguren, hat es wirklich gegeben. Wer mehr über die Hintergründe wissen möchte, dem bieten Sabine Lühning und Karin Köster zwei speziell darauf abgestimmte Stadtführungen an.
Für sie sei der Besuch der Domfestspiele Pflicht, betonen die beiden Frauen lächelnd. Ihre Führungen mit jeder Menge unterhaltsamer Informationen über das Leben in Verden im „Fin de siècle“, dem Ende des 19. Jahrhunderts, sind aber unabhängig von einem Theaterticket buchbar. Die Termine seien jedoch abgestimmt auf die jeweiligen Vorstellungen. Die Rundgänge sind also durchaus als Appetitmacher zu verstehen.
Die aktuelle Inszenierung bewegt sich zwischen Dichtung und Wahrheit, „wir sind sachlich unterwegs“, betont Karin Köster. Stadtarchiv, die Recherchen des Lokalhistorikers Jürgens Siemers und der Geschichtswerkstatt und manches mehr dienten ihr und Sabine Lühning als Quellen für ihre launigen Vorträge.
Beim „Blick hinter die Kulissen“ erhalten die Teilnehmenden einen Eindruck vom Treiben hinter der Festspiel-Bühne. Bei dieser Art „Making of“ kommen sie mit verschiedenen Akteuren und Gewerken ins Gespräch.
Die „Führung durch die Zeit“ beinhaltet Schauplätze aus dem Stück, ist eingebettet in den historischen Kontext. Geschickt verknüpfen Lühning und Köster beim Gang durch die Stadt Stationen des Lebens von Willibert Stendel, wie die Ostertorstraße, in der sein Elternhaus stand, mit historischen Fakten. Auch über die Geschichte der Welthölzer und das damit verbundene Monopol.
Geboren als Sohn eines Gastwirtes und einer Schauspielerin, fühlte Willibert Stendel sich als Erwachsener offenbar beiden elterlichen Metiers verbunden. So betrieb er neben der Zündholzfabrik ein Winter- und ein Sommertheater, das auch seine Arbeiter zu schätzen wussten. Er war Gastronom, darüber hinaus war er Fabrikant für Papiertüten, Mitbesitzer einer Druckerei und hatte für eine gewisse Zeit sogar den Verdener Schlachthof an der Nassen Straße unter seiner Leitung.
„Er wollte zur gehobenen Gesellschaft gehören“, stellt Lühning fest. Ob die höheren Kreise in Verden ihn als einen der ihren anerkannten oder als Emporkömmling betrachteten, das ist anhand der Quellen nicht feststellbar. Belegt ist, dass Willibert Stendel 1903 verarmt starb. Sein Vermögen hatte er, der Zündholzfabrikant, durch einen Brand verloren. Welch Ironie des Schicksals.
Die Führungen und ihre Termine
Führung durch die Zeit – „Die Zündholzfrau“: Dieser Rundgang führt zu den historischen Schauplätzen und beleuchtet die sozialen Spannungen des „fin de siècle“. Termine: Freitag und Samstag, 25. und 26. Juli; Dienstag, 29. Juli; Freitag, 1. August; Mittwoch, 6. August, und Samstag, 9. August. Beginn der etwa einstündigen Führung ist jeweils um 17 Uhr. Die Teilnehmenden treffen sich an der Treppe des Rathauses, die Kosten betragen neun, ermäßigt sechs Euro.
Blick hinter die Kulissen – „Die Zündholzfrau“: In dieser exklusiven, etwa eineinhalbstündigen Stadtführung erleben die Teilnehmenden die Schauplätze und Hintergründe des Theaterstücks hautnah und erfahren mehr über Kostüme, Requisite, Maske und Bühnentechnik. Sie haben auch Gelegenheit, sich mit Darstellenden auszutauschen. Termine: Samstag, 26. Juli; Samstag, 2. August, sowie Freitag, 8. August. Treffpunkt ist die Treppe am Haupteingang des Verdener Rathauses jeweils um 16 Uhr. Die Teilnahme kostet 15, ermäßigt 13 Euro pro Person. Das Bonbon: Jedes Ticket enthält einen Gutschein über zwei Euro für die Festspiel-Gastronomie der Domschänke Verden
Aktuelle Informationen und Tickets gibt es bei der Tourist-Information der Stadt Verden, Große Straße 40, Telefon 04231/12345.
______________________________________
Motorisiert um die Kurve: Die umgebaute Pferdekutsche ist ein echter Hingucker. FOCKE STRANGMANN
Daniel Düsentrieb würde stolz auf die Droschke sein, die die "Domis" für das aktuelle Stück organisiert haben. Was sie so besonders macht.
Von Jörn Dirk Zweibrock
Nicht nur für das Bühnenbild, sondern auch für die Großrequisiten, "also alles, was größer als ein Stuhl ist", sind die Bühnenbauer um Henning Diers bei den Verdener Domfestspielen zuständig. Und da eine Pferdekutsche ja nun einmal bekanntlich größer ist als ein Stuhl, fällt sie eben in diesen Bereich. Die Kutsche, die seit einigen Wochen im Mittelpunkt der Proben steht, wird aber keineswegs von edlen Rössern gezogen, sondern vielmehr von einem alten Deutz-Schiffsmotor angetrieben. Zwei Tüftler aus dem Landkreis Rotenburg, die sonst eigentlich Seifenkistenrennen organisieren, haben sie entsprechend motorisiert. Ersteigert wurde die rund hundert Jahre alte Droschke über das Internet. Sie stammt aus Eitze.
Bei dem motorisierten Vehikel handelt es sich also um das erste "Auto" Verdens, das im aktuellen Festspielstück "Die Zündholzfrau" gleich in zwei Szenen zum Einsatz kommt. Regisseur Hans König entwirft mit dem "Fortschrittsauto" also auch ein Sittenbild jener Zeit. Er beleuchtet damit die Diskrepanz zwischen "der prekären Lage der Arbeiterschaft in der Zündholzfabrik und dem Aufstiegswillen der Bourgeoisie". Verständlich, dass damals auch das "einfache Volk" am Fortschritt in Verden teilhaben wollte und die Missstände immer wieder in einschlägigen Reden angeprangert wurden. So auch von der Kutsche aus. In diese Zeit fällt bekanntlich auch der Erlass des sogenannten Sozialistengesetzes.
Daniel Düsentrieb aus Verden
Ingenieur Aldus Wichert – Hans-Jürgen Schulz schlüpft in die Rolle des Verdener Daniel Düsentriebs – steht wie kein anderer für den technischen Fortschritt in der Domstadt. Die beginnende Motorisierung, das Sozialistengesetz, die Erfindung des Sprengstoffs Dynamit durch den schwedischen Chemiker Alfred Nobel – also genug Stoff für ein spannendes Stück, in dem historische Zahlen, Daten und Fakten mit einem Quäntchen Fiktion immer wieder eine charmante Melange eingehen.
Jedenfalls hat es das Bühnenbild in der aktuellen Spielzeit in sich (wir berichteten). "Die Bühne ist in diesem Jahr so groß wie noch nie“, erzählt Diers, der sich nun schon zum zweiten Mal als Bühnenbauer- und -bildner betätigt. Über 100 Darsteller müssen darauf Platz finden, zudem muss das Konstrukt den permanenten Explosionen – Stichwort Dynamit – standhalten.
Auch diesmal bestehen die Bretter, die angeblich die Welt bedeuten sollen, aus mehreren Ebenen: Oberhalb der rund 150 Quadratmeter großen Bühnenfläche befinden sich links und rechts zwei Carport-ähnliche Kästen. In der Scheune von Diers' Nachbarn werden die Kulissen gebaut, die fertigen Teile wandern später allesamt in den leeren Kuhstall von einem anderen Dorfbewohner. Nach den "Scheunen- und Stallwochen" werden die einzelnen Teile dann ab Mitte Juli wie beim Legospiel vor dem Sakralbau in Verden zu einem großen Ganzen zusammengefügt.
Hausbesuche mit dem ersten Automobil
König hat übrigens herausgefunden, dass es Ende des 18. Jahrhunderts in der Domstadt gerade mal ein Automobil mit Nummernschild gab. Die Karosse gehörte einem Mediziner, der damit seinen Patienten einen Besuch abstattete – quasi ein Hausbesuch auf vier Rädern.
Die motorisierte Kutsche zählt folglich zu den größten Requisiten, die je den Weg vor die Bühne vor dem altehrwürdigen Verdener Gotteshaus gefunden hat. Pardon: Finden wird, denn irgendwie müssen sie die "Domis" ja noch von Mehringen in der Gemeinde Hilgermissen bis in die Allerstadt bugsieren. Und wer weiß, vielleicht zieren ja in der aktuellen Spielzeit doch noch tierische Großrequisiten auf vier Beinen das Bühnenbild. Passen würden Pferde ja irgendwie in die Kulisse.
______________________________________
Das Fahren um die Kurve will geübt sein. Auch das war ein Programmpunkt des Domfestspiel-Ensembles am Wochenende beim Bühnenbauer. © Niemann
Von Christel Niemann
Die Ensemble-Mitglieder der Domfestspiele Verden stehen vor fahrerischen Herausforderungen.
Verden –Eine Kutsche ohne Pferde? Genau: Für die Domfestspiele „Die Zündholzfrau“ vom 24. Juli bis 9. August auf der Freilichtbühne am Verdener Dom wurde eine über 100 Jahre alte Pferdekutsche umgebaut. Sie wird nun nicht mehr von Pferden, sondern von einem Schiffsmotor mit Dieselkraftstoff angetrieben.
Die motorisierte Kutsche wird auch nicht mit einem Lenkrad gelenkt, sondern mit Lenkstangen, die der Fahrer ähnlich wie Zügel in den Händen hält. Und weil genau das bei Kurvenfahrten und Wendungen so seine Tücken hat, haben Ensemble-Mitglieder unter Anleitung von Bühnenbauer Henning Diers das ungewohnte Handling des Gefährts am Standort Bühnenbau in Mehringen schon mal geübt und sich auch mit den Tücken der Technik vertraut gemacht.
Vier „Domis“ hatten für den Übungslauf in der Motorkutsche Platz genommen: Ingenieur Wichert Aldus (Hans-Jürgen Schulz), eine Art Daniel Düsentrieb jener Zeit, lenkte das Gefährt. An seiner Seite hatte seine Gattin Petulia (Bettina Renken) Platz genommen, während der im Stück „von großer Übelkeit geplagte“ Bürgermeister Theodor Münchmeyer (Uwe Pekau) nebst Ehefrau Wilhelmine Caroline früh verheiratete Münchmeyer (Michaela Rampp) im Fond des Oldie-Nachbaus saß, als der in gemächlichem Tempo über den Asphalt rollte.
Als das vielleicht Ungewohnteste an der Renaissance erwies sich das Steuer, also der Zügelersatz. Er besteht aus zwei Stangen mit einem Gewinde, durch das die Vorderachse im Zaum gehalten wird. Diese Lenkung in den Griff zu bekommen, erfordert selbst im Schritttempo Fingerspitzengefühl, wie Schulz auch gleich bestätigte. Geprobt wurden auch das Rückwärtsfahren und die Dosierung von Gas: „An Tempo werden rund fünf Stundenkilometer erreicht“, informierte Autor und Regisseur Hans König, der das Gezockel zum Übungszweck mit seiner Regieassistentin Birgit Scheibe verfolgte.
Warum überhaupt diese Motorkutsche?
Jost Köhnken und Martin Tewer aus Waffensen, zwei experimentierfreudige Tüftler aus der Seifenkisten-Szene, haben die mechanische Kutsche umgebaut, die Requisiteurin Ilse Schubert im Internet aufgestöbert hatte. Den Deutz-Dieselmotor fand das Tüftler-Team im eigenen Fundus – er stammt von einem Boot. „Der kreative Umbau hatte seine Tücken; vor allem die Lenkung und den Antrieb der großen hölzernen Räder zu regeln, war eine Herausforderung“, fügte Bühnenbildner Henning Diers hinzu.
Aber warum überhaupt diese Motorkutsche? Sie passe zur Authentizität des Stücks, in dem sie zweimal zum Einsatz komme, erzählte Regisseur König. Er verwies auf das Sittenbild Verdens in jener Zeit, auf die zaghaften Anfänge der Industrialisierung und auf die Diskrepanz, die zwischen dem Aufstiegswillen der Bourgeoisie und der Situation der Arbeiterschicht geherrscht habe.
König erzählte, dass es 1886 in Verden gerade mal ein Automobil gegeben hat, das einem Arzt gehörte. Doch das Bestreben nach Höherem habe es auch damals schon gegeben. Dieses Bestreben werde im Stück durchaus infrage gestellt, so der Autor und Regisseur. Beispielsweise in der Szene, in der Redner auf der Kutsche stehend ihre Stimme erheben.
______________________________________
Künstlerische Leiterin der Maskenwerkstatt: Ilenia Marstaller.
Maskenbildnerinnen aus Leidenschaft: Anke (l.) und Carolin Cordes. Foto: Michael Galian
In der Maske schminken sie um die Wette. Warum die Frisuren der Bourgeoisie-Damen eine Herausforderung für die Frisuren-Werkstatt darstellt.
Von Susanne Ehrlich
Sie kann aus einer jungen Frau eine zerknitterte Greisin machen und aus einem richtig netten Kerl einen üblen Bösewicht. Blutende Wunden oder scheußliche Narben sind für sie eine Kleinigkeit. Ilenia Marstaller ist Make-Up-Artistin und muss gemeinsam mit Regisseur Hans König und Kostümbildnerin Christin Bokelmann die Protagonisten des historischen Stücks "Die Zündholzfrau" auch optisch in Szene setzen.
Ihre Ausbildung hat sie an der Berufsfachschule für Kosmetik und Visagistik in Bremen absolviert und danach als Make-Up-Artistin an Filmsets und auf Theaterbühnen gearbeitet. "Irgendwann habe ich gemerkt, dass ich eigentlich gar nicht die ganze Zeit hinter den Kulissen sein, sondern selbst im Vordergrund stehen möchte."
Mätresse des Bischofs
Zu den Domfestspielen kam sie im Jahr 2017: "Da wurde mir während meiner Ausbildung ein Praktikumsplatz angeboten, und die ganze Atmosphäre dort und die tolle Gemeinschaft haben mir so gut gefallen, dass ich mir gewünscht habe, dort auch selbst auf der Bühne zu stehen." Schon 2022 war Marstaller für die Gesichter der über 80 Darsteller verantwortlich und spielte zugleich eine Mätresse des Bischofs. "Da musste ich im Badezuber ein Lied singen." Auch in der "Zündholzfrau" wird sie wieder auf der Bühne stehen und eine kleine Gesangsszene haben.
Doch wie lässt sich das mit ihrer Aufgabe als Maskenbildnerin vereinbaren? "Ich schminke ja nicht selbst, sondern habe nur die Künstlerische Leitung", erzählt Marstaller. "Ich entwerfe die Masken gemeinsam mit Hans König und der Kostümbildnerin Christin Bokelmann."
Um die Vorstellungen des Regisseurs exakt umzusetzen, schminkt sie im Verlauf der Probenphase alle Mitwirkenden einmal in ihrem Kostüm und macht davon ein Foto. Diese Fotos sind sozusagen die Arbeitsanweisungen für das Schminkteam; die Maskenkünstlerin fügt ihnen als "persönliche Karteikarten" noch die Farben von Lidschatten und Lippenstift, die Art der Grundierung und andere exakte Details hinzu.
Susanne Fricke hat die Koordination der Masken- und Frisur-Werkstatt übernommen. Als Bindeglied zwischen Marstaller und dem Team ist sie für den reibungslosen Ablauf verantwortlich. "Ich mache die Pläne, wann wer geschminkt werden muss. Vorher stimme ich mich mit Ilenia und Hans ab, und dann werden die einzelnen Figuren unter den Frauen des Schmink-Teams aufgeteilt."
Erfahrung am Schminktisch
Die Verdenerinnen Anke und Carolin Cordes bringen schon Erfahrung aus den vorigen Produktionen mit. Mutter Anke ist zum zweiten Mal, Tochter Carolin sogar zum dritten Mal dabei. "Ich habe mich schon immer gern geschminkt, verrät die Tochter. Und ergänzt: "Es hat mir Spaß gemacht, das auch mal im Theater-Bereich auszuprobieren." Weil Theaterschminke über eine weite Distanz wirken müsse, müsse sie sehr viel kräftiger aufgetragen werden." Natürlich dürfe sie auch nicht verwischen, wenn die Bühnendarsteller stark schwitzten.
Mutter Anke Cordes ist erst seit 2022 dabei. Sofort hatte auch sie der Domfestspiel-Virus gepackt. "So anstrengend es ist, fast einen ganzen Monat Abend für Abend auf dem Platz zu sein, so viel bekommt man auch zurück." Und Carolin setzt hinzu: "Das ist so etwas anderes als alles, was man sonst im Alltag tut. Es ist eine Zeit, auf die man sich schon lange vorher freut, ein ganz besonderer Monat für uns alle."
Seit Pfingsten wissen die beiden Frauen genau, was sie erwartet: "Wir hatten drei Tage lang ein Probeschminken, da haben wir rund 50 Leute geschminkt", erzählt Anke Cordes. "Das hat unheimlich viel Spaß gemacht." Auch Carolin hat das Pfingstwochenende sehr genossen: "Das hat es uns sehr erleichtert, die Vorstellungen von Hans und Ilenia eins zu eins umzusetzen."
Herausfordernde Frisuren
Bereits bis zu vier Stunden vor der Aufführung muss das Schminkteam gewöhnlich mit der Arbeit beginnen. Allerdings werden diesmal nur rund die Hälfte der Darsteller geschminkt, sagt Fricke. "Das Stück zeigt ja eine scharf voneinander getrennte Zweiklassengesellschaft. Das soll durch die Kostüme und die Frisuren sowie durch das ganze Auftreten unterstrichen werden." Deshalb bleiben die Kostüme des Arbeiter-Volkes grau und einheitlich und die Gesichter gleichsam unbetont.
"Ein Kapitel für sich sind die Frisuren der Bourgeoisie-Frauen", weiß Fricke: "Die waren nach der damaligen Mode ganz aufwendig hochgesteckt." Eine Frau aus dem Frisuren-Team sei krankheitsbedingt ausgefallen: "Es wäre toll, wenn noch jemand Lust hätte, uns zu unterstützen."
______________________________________
Christin Bokelmann mit Darstellerin Hiltrud Stampa-Wrigge bei der Anprobe. © Niemann, Christel
Darsteller der Verdener Domfestspiele proben das erste Mal in ihren Kostümen.
Von Christel Niemann
Verden – Langsam aber sicher biegen die Vorbereitungen für die Domfestspiele auf die Zielgerade ein. Nur noch wenige Wochen, dann feiert „Die Zündholzfrau“ im Schatten des Doms zu Verden am Freitag, 25. Juli, Premiere. Das Stück ist an insgesamt neun Abenden zu sehen.
Doch bevor es so weit ist, stehen noch einige Proben auf dem Programm der Mitwirkenden. So auch am vergangenen Wochenende als sie in der Probehalle in Intschede zusammenkamen – um zum ersten Mal in ihren Kostümen zu üben. Bei Temperaturen um die 30 Grad, eine durchaus schweißtreibende Angelegenheit, nicht nur für die Cancan-Tänzerinnen.
Das erste Mal in die Kostüme zu steigen, ist für alle Beteiligten ein besonderer Moment. Chef-Kostümbildnerin Christin Bokelmann bekam sogar feuchte Augen, als sie die vielen Darsteller in den Bühnenoutfits sah. „Es war ein wunderbarer, ein bewegender Moment.“
Denn erst, wenn die Kostüme auf der Bühne getragen werden und sich die Mitwirkenden so in andere Personen verwandeln, wird der erwünschte Effekt der Inszenierung richtig sichtbar. „Ein Cut und ein Zylinder machen sogar einen Freak zum Herrn in steifer Haltung und die Jeansträgerin wird im Kleid der Bourgeoisie zur Dame“, betonte Bokelmann dann auch.
Ein bewegender Moment
Sämtliche vor und hinter den Kulissen der Festspiele Beteiligten waren sich einig, dass Christin Bokelmann und Beate Ambroselli sowie ihr Team ganze Arbeit geleistet haben. Bokelmann, die unter anderem als freie Kostümbildnerin an Theatern und Opernhäusern im In- und Ausland tätig ist, beschrieb mit einem Wort, was ihr zur Aufgabe bei den Domfestspielen einfällt: „Super“. Es sei ein anderes Arbeiten, weshalb sie der Anblick der Schauspieler in ihren Kostümen auch so emotional gemacht habe. „Dabei bin ich schon 20 Jahre in diesem Beruf.
Aber ich hatte ein Gefühl, als fielen plötzlich alle Festtage auf einmal zusammen – Weihnachten, Silvester und Ostern.“ Bokelmann erzählte außerdem, dass die Schuhe überwiegend aus ihrem eigenen Fundus stammen oder Fundstücke von Flohmärkten und aus dem Internet sind. Die Kostüme dagegen hat sie vom Theater Bremer ausgeliehen. „Ich habe den dortigen Fundus durchstöbert, die Fundstücke katalogisiert und dann mit dem Regisseur seine Vorstellungen für die Rollen besprochen.“
Farbige Akzente
Die Frauen des gehobenen Bürgertums habe sie ursprünglich in knalligen Farben kleiden wollen, doch das habe der Theaterfundus leider nicht hergegeben. Deshalb wurde auf dunkle Kleidertöne gewechselt – mit farbigen Akzenten durch Hüte und Schirme. „Ich denke, dass wir für alle etwas gefunden haben, auch wenn das ein oder andere Detail vielleicht eine Spur von der Epoche abweicht, in der das Stück spielt.“
Das sei aber kein Problem. Aber nicht nur die Arbeit mit dem Regieteam begeistert Bokelmann, sie hat für alle Beteiligten ein Lob parat. „Es gibt so viel Freiwilligkeit. Diese vielen Menschen, die alle ein hohes Maß an Freizeit und sogar ihren Urlaub investieren – Chapeau.“ Das alles sei beeindruckend groß – und sie sehr glücklich, ein Teil davon zu sein.
Für Christin Bokelmann ist mit der Premiere die Arbeit bei den Domfestspielen beendet. Ganz im Gegensatz zum Rest der Kostümabteilung: Die Erfahrung aus den vergangenen Inszenierungen hat gezeigt, dass während des Spielbetriebes immer wieder Löcher in den Kostümen gestopft oder zerrissene Nähte wieder auf Vordermann gebracht werden müssen.
______________________________________
Franziska Mencz bleibt den Domfestspielen seit 17 Jahren treu. Foto: FOCKE STRANGMANN
Die etablierte Bremer Schauspielerin Franziska Mencz erzählt von ihrer Begeisterung für die Verdener Domfestspiele und der aktuellen Rolle als kaltherzige Fabrikantengattin.
Von Susanne Ehrlich
Franziska Mencz liebt die Domfestspiele. Die Bremer Schauspielerin ist seit 2017 regelmäßig dabei. Diesmal muss sie als kaltherzig-berechnende Ehefrau des Fabrikanten Willibert Stendel entdecken, dass die "Zündholzfrau" Klara Breden zu ihrer Rivalin geworden ist. Was macht das Verdener Open-Air-Theater für eine auf der Bühne, im TV und als Regisseurin viel beschäftigte Profi-Schauspielerin so attraktiv?
"Ich mag die Atmosphäre so sehr", lautet die schlichte Antwort. Als Hans König sie im Herbst 2016 gefragt habe, ob sie beim "Brennenden Mönch" mitmachen wolle, sei sie erst ein bisschen unsicher gewesen: "So ein großes Projekt, ein richtiges Spektakel mit über hundert Leuten – so etwas hatte ich noch nie zuvor gemacht und habe mich gefragt, ob das überhaupt etwas für mich ist." Trotzdem sagte sie zu, und schon beim ersten Kontakt mit den Domis war sie überzeugt: "Ich habe mich über das tolle Miteinander gefreut, über diese vielen verschiedenen Menschen, die hier zusammenkommen und sich mit Haut und Haaren hineinschmeißen – und am Ende entsteht so eine große eigene Welt!"
Erfolgreiche Zusammenarbeit
Mit Hans König hat sie schon öfter gearbeitet. 2021 und 2024 führte er Regie bei den Stücken "Wölfinnen" und "Die Töchter" am Bremer Theater, die er gemeinsam mit ihr und einer Schauspiel-Kollegin entwickelt hatte. "Ich arbeite gerne mit ihm. Die Inhalte, die er behandelt, haben für mich immer eine große Relevanz und außerdem schätze ich seinen Umgang mit den Menschen, mit denen er arbeitet."
Seine Herzlichkeit, seine Kommunikation auf Augenhöhe, der respektvolle Ton im Miteinander – all das übertrage sich auf das gesamte Ensemble. "Natürlich kann man nicht davon ausgehen, dass alle, die hier mitspielen, schauspielerisch gleichermaßen erfahren sind. Aber gerade das ist das Schöne zu sehen, dass wir alle miteinander arbeiten, dass wir im selben Boot sitzen."
Gegensätzliche Rollen
Als zölibatäre Liebschaft Cäcilie Jungblut im "Brennenden Mönch", als adelige Patronin Margarethe von Ahlden in der "Rebellischen Hexe" und nun als Eugenia Stendel, deren bisheriges Leben als angesehene und reiche Unternehmergattin aus den Fugen zu geraten droht, verkörpert sie sehr gegensätzliche Rollen – und diesmal wohl keine besonders sympathische. Eugenia ist übermäßig standesbewusst und dünkelhaft, sehr berechnend in ihren Beziehungen und unerbittlich hart in dem, was sie von Stendel fordert. Kann man diese Rolle trotzdem mögen? "Ja, auch wenn ich privat mit meiner Bühnenfigur keinen Kaffee trinken gehen würde und mich persönlich nicht mit ihr identifizieren kann, finde ich es sehr spannend, mich in sie hineinzuversetzen und im Spiel Gründe zu suchen, warum sie so geworden ist." Dabei könne sie an manchen Stellen sogar Mitgefühl entwickeln – aber sympathisch sei ihr Eugenia nicht: Eine echte Herausforderung für die Darstellerin.
Gut gefällt ihr die Zeitepoche, in der das Stück handelt, denn sich künstlerisch mit den Themen Arbeiter- und Frauenbewegung auseinanderzusetzen, ist für sie selbstverständlich. Mehrere Jahre war sie mit einer szenischen Lesung mit Musik als Rosa Luxemburg unterwegs. "Die war allerdings zur Zeit der 'Zündholzfrau' erst fünf Jahre alt", stellt sie klar.
Berufs- und Sinnkrise überwunden
Solche Lesungen sind ein Genre, in dem sie sich gern bewegt. Nach dem Studium in Ulm hatte die in Marbach geborene Mimin, die sich dennoch nicht als Ur-Schwäbin empfindet ("Meine Eltern stammen nicht von dort, sondern waren Zugereiste."), mehrere Jahre Engagements an festen Bühnen. "Aber dann bin ich in eine Art Berufs- und Sinnkrise geschlittert." Während einer Umorientierungsphase absolvierte sie mehrere Fortbildungen, unter anderem am Hamburger Institut für Gebärdensprache und am Camera Actors Studio in Berlin. Wie kommt eine Schauspielerin zur Gebärdensprache? "Ich war einfach neugierig, weil das eine Sprache ist, bei der der ganze Körper mitspielt." Dabei trete man gleichsam in eine ganz eigene Kultur ein: "Normalerweise funktioniert unsere Kommunikation stark über Hören und Sprechen. Hier funktioniert sie – auch mit all ihren grammatischen Elementen – über das räumliche Darstellen von Zusammenhängen. Dabei habe ich viel gelernt."
Seit vielen Jahren ist sie nun in der freien Bremer Theaterszene aktiv, war gerade parallel zu den Domfestspielproben mit einer Regie-Arbeit am Bremer Union-Theater beschäftigt und hat in zahlreichen Fernsehproduktionen bei ARD und ZDF mitgewirkt. "Ich mag Dreharbeiten sehr gern. Ich mag die besondere Art der Konzentration und freue mich jedes Mal, wenn ich für eine Rolle gecastet werde." Doch ebenso liebt sie es, ihre eigenen künstlerischen Ideen und Themen umzusetzen.
______________________________________
Das Fahren um die Kurve will geübt sein. Auch das war ein Programmpunkt des Domfestspiel-Ensembles am Wochenende beim Bühnenbauer. © Niemann
Hinten an der Kutsche ist ein Motor zu sehen. Schafft ein Tempo von fünf Stundenkilometern: der gedrosselte Schiffsmotor. © Niemann
Wer ein Lenkrad sucht, muss umdenken. Eine besondere Konstruktion ermöglicht die Kurvenfahrt. © privat
Die Ensemble-Mitglieder der Domfestspiele Verden stehen vor fahrerischen Herausforderungen.
Von Christel Niemann
Verden –Eine Kutsche ohne Pferde? Genau: Für die Domfestspiele „Die Zündholzfrau“ vom 24. Juli bis 9. August auf der Freilichtbühne am Verdener Dom wurde eine über 100 Jahre alte Pferdekutsche umgebaut. Sie wird nun nicht mehr von Pferden, sondern von einem Schiffsmotor mit Dieselkraftstoff angetrieben.
Die motorisierte Kutsche wird auch nicht mit einem Lenkrad gelenkt, sondern mit Lenkstangen, die der Fahrer ähnlich wie Zügel in den Händen hält. Und weil genau das bei Kurvenfahrten und Wendungen so seine Tücken hat, haben Ensemble-Mitglieder unter Anleitung von Bühnenbauer Henning Diers das ungewohnte Handling des Gefährts am Standort Bühnenbau in Mehringen schon mal geübt und sich auch mit den Tücken der Technik vertraut gemacht.
Als das vielleicht Ungewohnteste der Zügelersatz
Vier „Domis“ hatten für den Übungslauf in der Motorkutsche Platz genommen: Ingenieur Wichert Aldus (Hans-Jürgen Schulz), eine Art Daniel Düsentrieb jener Zeit, lenkte das Gefährt. An seiner Seite hatte seine Gattin Petulia (Bettina Renken) Platz genommen, während der im Stück „von großer Übelkeit geplagte“ Bürgermeister Theodor Münchmeyer (Uwe Pekau) nebst Ehefrau Wilhelmine Caroline früh verheiratete Münchmeyer (Michaela Rampp) im Fond des Oldie-Nachbaus saß, als der in gemächlichem Tempo über den Asphalt rollte.
Als das vielleicht Ungewohnteste an der Renaissance erwies sich das Steuer, also der Zügelersatz. Er besteht aus zwei Stangen mit einem Gewinde, durch das die Vorderachse im Zaum gehalten wird. Diese Lenkung in den Griff zu bekommen, erfordert selbst im Schritttempo Fingerspitzengefühl, wie Schulz auch gleich bestätigte. Geprobt wurden auch das Rückwärtsfahren und die Dosierung von Gas: „An Tempo werden rund fünf Stundenkilometer erreicht“, informierte Autor und Regisseur Hans König, der das Gezockel zum Übungszweck mit seiner Regieassistentin Birgit Scheibe verfolgte.
Warum überhaupt diese Motorkutsche?
Jost Köhnken und Martin Tewer aus Waffensen, zwei experimentierfreudige Tüftler aus der Seifenkisten-Szene, haben die mechanische Kutsche umgebaut, die Requisiteurin Ilse Schubert im Internet aufgestöbert hatte. Den Deutz-Dieselmotor fand das Tüftler-Team im eigenen Fundus – er stammt von einem Boot. „Der kreative Umbau hatte seine Tücken; vor allem die Lenkung und den Antrieb der großen hölzernen Räder zu regeln, war eine Herausforderung“, fügte Bühnenbildner Henning Diers hinzu.
Aber warum überhaupt diese Motorkutsche? Sie passe zur Authentizität des Stücks, in dem sie zweimal zum Einsatz komme, erzählte Regisseur König. Er verwies auf das Sittenbild Verdens in jener Zeit, auf die zaghaften Anfänge der Industrialisierung und auf die Diskrepanz, die zwischen dem Aufstiegswillen der Bourgeoisie und der Situation der Arbeiterschicht geherrscht habe.
König erzählte, dass es 1886 in Verden gerade mal ein Automobil gegeben hat, das einem Arzt gehörte. Doch das Bestreben nach Höherem habe es auch damals schon gegeben. Dieses Bestreben werde im Stück durchaus infrage gestellt, so der Autor und Regisseur. Beispielsweise in der Szene, in der Redner auf der Kutsche stehend ihre Stimme erheben.
______________________________________
Liebespaar auf der Bühne und im echten Leben: Vania und Andreas Brendel. Foto: FOCKE STRANGMANN
Bei den Domfestspielen spielen die Hauptdarsteller, die auch im echten Leben ein Paar sind, eine unerhörte Liebesbeziehung. Welche Herausforderungen es da gibt.
Von Susanne Ehrlich
Große Liebe auf großer Bühne: Die beiden Hauptdarsteller der Domfestspiele 2025 können mit leidenschaftlichen Empfindungen überzeugen, denn sie sind auch im wirklichen Leben ein Liebespaar. Wenn sich mitten im Strudel der Ereignisse die unerhörte Liebesbeziehung zwischen dem verheirateten Fabrikbesitzer Willibert Stendel und der Zündholz-Arbeiterin Klara Breden entwickelt, ist Gänsehaut garantiert.
Vania und Andreas Brendel haben sich 2008 an der Schauspielschule Charlottenburg kennengelernt. "Wir waren beim Vorsprechen nacheinander dran", erinnert sich die Schauspielerin.
Seit 2010 liiert
Seit 2010 sind beide ein Paar. In Berlin haben sie viele gemeinsame Projekte gehabt, bei denen Vania auch ihre ersten Regiearbeiten ablieferte. Beide waren in der freien Schauspielszene aktiv und spielten gemeinsam in einer Band. Noch heute springt Vania als Pianistin und Sängerin gern in Andreas' Bremer Band Brendelson ein.
"Für uns ist es ideal, wenn wir die Arbeitsbereiche aufteilen, zum Beispiel, dass einer von uns Regie führt und der andere auf der Bühne steht", erklärt Andreas Brendel. "Konflikte sind selten, denn wir sind sehr ergänzend und genießen es, zusammen zu arbeiten." Gegenseitige Unterstützung und Wertschätzung sind selbstverständlich. "Wenn wir selbst Stücke schreiben, lesen wir sie uns gegenseitig vor, und wenn wir Rollen lernen müssen, fragen wir uns ab."
Auftritte in Fernsehserien
Für beide ist es sehr wichtig, sich auf ihr jeweiliges Projekt zu fokussieren und es konsequent durchzuziehen. Dafür geben sie sich immer genügend Raum. "Disziplin ist alles", weiß Vania, die meist länger braucht, um ihre Arbeitsstruktur zu finden. "Andreas kann das sehr gut, und das ist mir eine große Hilfe." Dabei sei es ganz gleich, ob es um eine Theaterrolle, ein freies Projekt oder einen Filmdreh handle. Vania ist Leiterin und Gründerin des Theaters Alter Ego, eines freien Ensembles in Bremen und hat gleichzeitig in TV-Serien wie "Soko Wismar" mitgewirkt. "Auch Vorabend-Produktionen haben ihre befriedigenden Aspekte", findet sie – ganz davon abgesehen, dass man von künstlerischem Idealismus allein nicht satt werde. "Ich bin sehr dankbar, solche Rollen zu spielen. Es muss nicht immer hoch anspruchsvoll sein, sondern es macht auch Spaß, einfach zu unterhalten."
Ihr Ehemann ist weniger in TV-Produktionen zu sehen: "Ich habe mich in erster Linie der Bühne verschrieben." So schreibt und inszeniert er mit großem Erfolg Kindertheater-Stücke, veranstaltet Theater-Kurse und Schauspiel-Workshops, ist mit szenischen Lesungen unterwegs und arbeitet als freier Regisseur und Autor.
Der Zufall half mit
Für beide ist es die erste Zusammenarbeit mit Hans König. Die Verbindung ist über Andreas Brendels Freund Helge Tramsen entstanden. Dieser, ein Kabarett-Partner Königs, habe erfahren, dass bei den Domfestspielen eine Rolle zu besetzen sei, und sprach den Regisseur darauf an: "Ich kenne da einen, der ist sicher interessant für dich." Kurz darauf war Brendel als Fabrikant und Theaterbesitzer Willibert Stendel eine der Hauptfiguren der Domfestspiele 2025. Dass er mit seiner Frau auf der Bühne steht, ist reiner Zufall. "Für die Rolle der Zündholzarbeiterin Klara Breden war meine Kollegin Paula Claußen vorgesehen, die aber aus gesundheitlichen Gründen ausfiel", erzählt Vania Brendel. "Da hat mich Hans zu einem Vorlese-Termin eingeladen, und das hat gepasst."
______________________________________
Riesiger Gebäudekomplex: Wo heute die Volksbank steht, befand sich früher das Wohnhaus von Willibert Stendel. Sabine Lühning (l.) und Karin Köster kennen die historischen Zahlen, Daten und Fakten. Foto: Vasil Dinev
Das diesjährige Freilichttheater am Dom hält eine explosive Mischung für die Zuschauer bereit. Die beiden Gästeführerinnen Sabine Lühning und Karin Köster wissen, was historisch belegt und was Fiktion ist.
Von Jörn Dirk Zweibrock
Karin Köster und Sabine Lühning stehen an der Verdener Volksbank an der Ecke Stifthofstraße/ Ostertorstraße und blicken in Richtung Wall. "Der gesamte Gebäudekomplex gehörte früher dem Verdener Großunternehmer Willibert Stendel", erzählen die beiden Gästeführerinnen. Und genau um den geht es im aktuellen Domfestspiel-Stück "Die Zündholzfrau". Vom 24. Juli bis zum 9. August wird Stendel, dargestellt von Andreas Brendel, auf der großen Freilichtbühne vor dem Verdener Gotteshaus wieder zum Leben erweckt. Während der Festspielzeit nehmen Köster und Lühning die Teilnehmenden an gleich mehreren Terminen zu den Schauplätzen des aktuellen Stückes mit.
Amüsement und Zerstreuung
"Stendel war der Sohn einer Schauspielerin", weiß Karin Köster und spannt anhand seiner Vita gleich den Bogen zu seiner Vorliebe für das Theater. So habe im Gebäude der heutigen Volksbank einst Stendels Wintertheater residiert, sein Sommertheater, das sogenannte Tivoli, hingegen in der Nähe des jetzigen Finanzamtes. "Ich habe in historischen Zeitungen nachgelesen und entdeckt, dass früher eine Kapelle nach der anderen am Wochenende in den Verdener Sälen gastiert hat", sagt Köster.
In Zeiten, in denen es noch kein Fernsehen oder Internet gab, vergnügten sich eben nicht nur die Arbeiterinnen und Arbeiter aus Stendels Zündholzfabrik, sondern das gesamte Proletariat in seinen Theatern. Musste es auch, um wieder Kraft zu schöpfen und sich für die neue Arbeitswoche zu regenerieren, denn die war damals folglich lang und hart. "Zwölf Stunden am Tag, sechs Tage die Woche lang mussten die Menschen einst malochen", rechnet Lühning vor. Umso verständlicher, dass sie, um Zerstreuung zu finden, gerne in den Lustspielhäusern der Stadt verweilten.
"Auf sage und schreibe 42 Vorstellungen in drei Monaten brachten es die Ensembles, die gleich für mehrere Wochen in Verden einquartiert wurden, zu der Zeit", hat Gästeführerin Karin Köster recherchiert. Obwohl es damals noch keinen Strom gab, nutzte Stendel, der den bürgerlichen Aufsteigertypus seiner Zeit wie kein anderer verkörperte, bereits Batterien für die Beleuchtung seiner Theatersäle.
Bahnbrechende Erfindung
Der Vater des Verdener Großunternehmers Willibert Stendel sei übrigens Gastronom gewesen. Und so verwundert es nicht, dass sich neben seinen Privatgemächern im überdimensional großen Gebäudekomplex zwischen Stifthofstraße und Wall auch eine Tütenfabrik (Verpackungsbranche), ein Verlag, eine Druckerei und eben auch die elterliche Gastwirtschaft befanden. Die eigentliche Zündholzfabrik hatte ihren Sitz hingegen ab 1866 in der Nasse Straße in Verden.
Bei ihren Recherchen für die Stadtführungen zu den Schauplätzen des aktuellen Festspielstückes sind die beiden Gästeführerinnen darauf gestoßen, welch bahnbrechende Erfindung doch die Entdeckung der Zündhölzer um 1830 für die Menschen gewesen sei. "Fortan war Feuer für sie immer, überall und sicher verfügbar." Viele Verdenerinnen und Verdener werden sich noch an die legendären Welthölzer erinnern, die bedingt durch das damalige Zündholz-Monopol bis in die Achtziger hinein in nahezu jeder heimischen Wohnstube zu finden waren.
Köster und Lühning schwärmen selbst immer noch von der Qualität der Welthölzer, die im Gegensatz zu den heutigen Billigvarianten weder abgebrochen seien, noch einmal nicht gezündet hätten. Die weißen Phosphor-Fässer, die beim Verdener Freilufttheater unter anderem das Bühnenbild zieren werden, greifen die beiden Gästeführerinnen natürlich auch in ihren Rundgängen auf. "Das in den Hölzern enthaltene Phosphor war gesundheitsschädlich, konnte beispielsweise Kiefernekrosen hervorrufen", erläutert Köster. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts, damals gehörte Stendels Zündholzfabrik bereits der Vergangenheit an, sei es dann letztendlich verboten worden.
Beginn der Mobilität
Beim Betrachten des aktuellen Stückes, das im Jahr 1878 spielt, können die Zuschauer jedenfalls eine kleine Reise in die Vergangenheit machen – in die Zeit der Industrialisierung und des Sozialistengesetzes. Autos fuhren zu diesem Zeitpunkt in Verden natürlich noch nicht, aber es gab schließlich schon clevere Tüftler, die sich Gedanken über alternative Fortbewegungsmittel machten.
Ob es die aufständische Arbeiterführerin Klara Libschütz, Stendels spätere Geliebte, damals wirklich gab, lässt sich anhand von Kösters und Lühnings gesichteten Quellen nicht belegen, aber gerade dieser besondere Mix aus historischen Fakten und ein wenig Fiktion sei ja auch das, was den besonderen Charme des norddeutschen Oberammergaus ausmache.
______________________________________
Regisseur Hans König probt für die Verdener Domfestspiele in der Turnhalle in Intschede den Trauerzug. Foto: FOCKE STRANGMANN
Die Domfestspiele sind ohne Hans König kaum vorstellbar. Seine Kreativität und sorgfältige Vorbereitung sind entscheidend für den Erfolg des Projekts. Entsprechend groß ist seine Bedeutung für das Ensemble.
Von Susanne Ehrlich
ereits zum fünften Mal ist er das Gesicht der Verdener Domfestspiele: Hans König hat sich als Autor und Regisseur des Mammutprojekts in die Herzen der Verdener eingeprägt und ist ganz entgegen der leicht dahingesagten These, dass niemand unersetzlich sei, für das hundertköpfige Ensemble, für die Mitarbeiter hinter der Bühne und das Leitungsteam Fixpunkt und wichtigste Instanz.
Mit 17 stand der Bremer Schauspieler, Regisseur, Autor und Mitbegründer mehrerer erfolgreicher Kammer-Ensembles zum ersten Mal auf der Bühne. Als Autor, Darsteller und Regisseur arbeitet er seither in verschiedenen Produktionen im Raum Bremen und der gesamten Republik. Seine Themen sind Politik und Zeitgeschichte, Satire und Philosophie. Mit jeweils mehr als 200 Schülern in Bremer Brennpunktschulen hat er Theaterprojekte geleitet, in denen die Schüler und Schülerinnen sich in Schauspiel und Gesang qualifizieren und auch am Bühnenbau mitwirken konnten. Aus seiner Zeit als künstlerischer Leiter im Kulturbahnhof Vegesack und in der Bremer Schwankhalle bringt er einen reichen Erfahrungsschatz mit.
Lieblingsprojekt Domfestspiele
Seit er im Jahr 2011 erstmals Autor und Regisseur der Domfestspiele wurde, sind sie für ihn zu einem Lieblingsprojekt geworden. Er habe das Gefühl, dass er hier genau richtig sei mit dem, was er könne, beschreibt König seine Motivation: "Das ist einzigartig, dass hier seit so vielen Jahren ein Theaterprojekt existiert, das von der Bevölkerung, von der Stadt, von den politisch Agierenden, der Wirtschaft und dem Handwerk getragen wird." So viel und umfassende Unterstützung – das könne man gar nicht selbst aufbauen: "Wo sonst kann ich ein solches Projekt realisieren, mit einer halben Million Budget, mit so vielen Mitwirkenden und mit einem Stück, das ich selbst schreiben und inszenieren kann? Das ist für mich ein großes Geschenk."
Anerkennung und Zuneigung
Ebenso beschenkt fühlt sich sein Ensemble. Hört man sich unter den Domis um, hört man nur Worte der Anerkennung und Zuneigung. Darstellerin Susanne Fricke bringt es auf den Punkt: "Was Hans so besonders macht, das ist seine Fähigkeit, wertschätzend zu sein, die Begabungen von jedem von uns zu erkennen und alle wichtig zu nehmen."
König freut sich auf seine bescheidene Art: "Wenn die Leute das beim fünften Mal noch sagen, das bedeutet viel für mich." Doch auch wenn die Domfestspiele ein Event von Verdener Bürgern für Verdener Bürger sind, möchte er den Begriff "soziokulturelles Projekt" nicht einfach so stehen lassen: "Dabei steht oft der Weg zum Ziel im Vordergrund, doch für mich ist gerade das Ziel sehr wichtig. Es reicht mir nicht, wenn ich mit Leuten 'kulturpädagogisch' arbeite, sondern das Ergebnis muss am Ende total überzeugend sein, und damit wir das schaffen, müssen alle sehr viel einbringen: Kraft, Energie, Zeit und die Bereitschaft, sich zu fordern." Und all das müsse für das gesamte Ensemble gelten.
Aus seiner Arbeit in professionellen Bezügen kennt er ein ganz bestimmtes Gefühl, das sich bei erfolgreicher Zusammenarbeit einstellt: "Das ist, als ob ein Musiker sein Instrument ganz einzigartig spielt, und der Komponist hört sofort, dass das perfekt zu seinem Werk passt. Und diesen Moment, wo ich denke 'wow, das ist es', den suche ich bei jedem Menschen, mit dem ich arbeite." Er sieht es als seine Aufgabe, jeden Einzelnen im Ensemble dahin zu führen, dass er selbst mit sich zufrieden sein und sich erfolgreich ins große Ganze einbringen kann. "Ich glaube daran, dass jeder besondere Talente und Fähigkeiten hat und es darauf ankommt, diesen Punkt zu finden. Das ist mein künstlerisches Konzept, sozusagen mein Arbeitsmittel." So inspiriert er die Menschen, mit denen er arbeitet, das Ihre zu finden.
"Die Figuren können sich dabei verändern, weil ich auf lebendige Leute treffe, denen ich nicht einfach eine Rolle aufoktroyieren möchte." Vielmehr entwickle er die Figuren mit ihnen gemeinsam: "Da ist die Tür ganz weit offen, wir arbeiten miteinander, und die Leute lernen ganz viel während der Proben." Durch den Input der Darsteller entstehen sogar hin und wieder Nebengeschichten, die zu neuen Szenen führen. Und das sei immer möglich, denn zum einen sei er ja selbst der Autor, und zum anderen erlaube die breite Bühne entlang der Dom-Mauer auch Nebenhandlungen: "Sie verleiht dem Stück einen filmischen Charakter, bei dem viele Dinge zur selben Zeit geschehen können."
Verantwortung fürs große Ganze
Doch auch wenn er seine Verantwortung für das große Ganze sehr ernst nehme, habe er durchaus ein Künstler-Ego. "Ich kann viel von meinen künstlerischen Vorlieben und Fähigkeiten unter einen Hut bringen, ich schreibe das Stück, komponiere die Szenenmusiken und mache die Choreografien." Das sei sozusagen ein Gesamtkunstwerk und gebe auch ihm selbst sehr viel Befriedigung.
______________________________________
Arbeitet fleißig am Bühnenbild für die Verdener Domfestspiele: der Künstler Henning Diers aus Hassel. © Niemann, Christel
Kulisse für die Verdener Domfestspiele entsteht in einer Mehringer Scheune
Von Christel Niemann
Verden – Der Hasseler Henning Diers ist Maler, Bildhauer, Grafiker und Handwerker. Doch seitdem eine Anfrage für die Verdener Domfestspiele kam, setzt er sein Knowhow auch noch in einem völlig anderen Bereich ein: Diers baut das Bühnenbild für das Freilichttheater, welches vom 24. Juli bis zum 9. August auf dem Domplatz in Verden zu sehen sein wird. Die Gäste dürfen sich auf das Stück „Die Zündholzfrau“ freuen. Schon zur Festspielsaison 2022 „Die rebellische Hexe“ hat Regisseur Hans König von der Arbeit des Hasselers geschwärmt, daher engagierte er ihn nun auch für dieses Jahr.
Das Bühnenbild entsteht derzeit in einer Scheune im Hilgermisser Ortsteil Mehringen. Dort baut Henning Diers die Grundelemente, die er für das Bühnenbild der Domfestspiele benötigt. Er löst Nägel und sucht Bretter heraus, geht zur Säge und schneidet mit geübter Hand mehrere Leisten zurecht. Sägespäne fliegen und der Geruch nach Holz in der Scheune wird intensiver.
Die Klaviatur ist komplett starr
Später wird der Künstler die Leisten im Gehäuse eines alten Klaviers aus seinem privaten Fundus verschrauben, dem er bereits alles entnommen hat, was es braucht, um Töne zu produzieren. „Da geht nichts mehr“, erzählt Diers lachend. Selbst die Klaviatur ist komplett starr. Deshalb fertigt der Hasseler die Leisten an, die er so platziert, dass die Klaviertasten – wenn auch nur scheinbar – wieder Beweglichkeit erlangen. „Für das Publikum sieht es dann so aus, als würde wirklich jemand das Instrument spielen. Die perfekte Illusion“, findet er.
Die Anforderungen an das diesjährige Bühnenbild der Domfestspiele sind erneut hoch. „Es ist schon eine große Sache“, meint Diers, der die Bühne von einer Gesamtlänge von 34 Metern Länge gemäß der Handlung des Stücks gestaltet. Das stammt aus der Feder von Regisseur Hans König. Als er seine Vorstellungen dem Künstler erläutert hatte, war der gleich Feuer und Flamme und musste nicht mehr lange zur Mitarbeit überredet werden
In Absprache mit dem Regisseur erarbeitete der Künstler zunächst ein Grundkonzept und fertigte Skizzen an. Zeigen, kann er diese Konzepte beim Besuch der Mediengruppe Kreiszeitung aber nicht. „Alles schon nicht mehr gültig. Mir fällt immer wieder etwas Neues, Besseres ein“, sagt er und weist auf eine Kugelschreiberzeichnung, die ihm aktuell als Planungsskizze dient.
Anfang Juli geht es mit dem Aufbau der Bühne auf dem Domplatz los
Nach der groben Planung folgte ein Modell, das Diers mittlerweile ebenso wieder größtenteils verworfen und sich mit neuen Ideen in die aktive Phase des Bühnenbaus begeben hat. Mehrere Wochen, so sagt er, liegen bereits hinter ihm. Weitere „Scheunenwochen“ werden noch folgen, bis es Anfang Juli zum Aufbau der Bühne auf dem Verdener Domplatz geht. Dort wird Diers die einzelnen Elemente auch erst farblich gestalten, denn in Mehringen wird zwar passgenau, aber nur im Rohzustand produziert.
Und das geschieht alles im Alleingang? „Meistens“, sagt der Künstler, der nur hin und wieder Unterstützung von Ehrenamtlichen bekommt. Unter anderem von einem gelernten Tischler, was natürlich eine große Hilfe für ihn bedeute.
Das Publikum soll alles mitbekommen
Neben dem Bühnenbau verantwortet Diers noch einen weiteren Bereich: Requisiten, die über die Größe eines Stuhls hinausgehen. Dazu zählt unter anderem ein Element, das gerade fahrbar gemacht wird. „Das wird für große Augen beim Publikum sorgen“, ist er sich sicher. Noch befindet es sich allerdings im Anfangsstadium. „Dazu später mehr“, so der Hasseler.
Wie er gern zugibt, habe auch er Lampenfieber wie ein Schauspieler: „Man ist gespannt auf die Reaktion der Besucher. Darauf, ob das Bühnenbild die Leute anspricht und ob es sie mitnimmt, in das Geschehen.“ Live und im Licht der Scheinwerfer sehe die Bühne zudem noch anders aus. Das Publikum betrachte sie schließlich aus etlichen Metern Entfernung und soll alles mitbekommen: jeden Soundeffekt, die Mimik der Schauspieler und die Details des Bühnenbildes.
______________________________________
Uta Sieber (l.) und Susanne Fricke gehören schon lange zum Team der Domfestspiele.
Foto: Michael Galian
Auch Michael Bauckner (v. l.), Luisa Ahrens und Horst Menzen haben schon an einigen Produktionen mitgewirkt. Foto: Susanne Ehrlich
Die Domfestspiele Verden sind mehr als nur Theater. Sie sind eine Gemeinschaft, die sich jedes Jahr aufs Neue begeistert zusammenfindet. Einige Altgediente berichten.
Von Susanne Ehrlich
Sie lassen sich die Haare abrasieren oder einen Bart wachsen, geben über Monate ihre Wochenenden dran und verzichten auf lange Urlaube oder aufwendige Hobbys, lassen Mann, Frau oder Kind allein zu Haus oder stecken sie einfach mit dem Virus an und bringen sie mit: Seit 27 Jahren sind die Domis eine eingeschworene Gemeinschaft und lassen sich immer aufs Neue begeistern.
Einer von ihnen ist Horst Menzen, ein Mann der ersten Stunde und mit 76 Jahren einer der Ältesten in der Domfestspiel-Familie. „Für die allerersten Domfestspiele wurde jemand gebraucht, der sich mit Technik auskennt.“ Der Maschinenbauingenieur war sofort bereit, seine Fähigkeiten einzubringen. „Da ging es um die Rüstungen der Panzerreiter und um die Waffen, die Speere und Lanzen.“ Doch dann wurde er auch als Darsteller mehrerer Figuren auf der Bühne gebraucht, zum Beispiel als Panzerreiter. „Einmal bin ich bei einer verregneten Probe mit dem Pferd gestürzt. Das ist einfach unter mir weggerutscht, und dann lag ich drunter.“ Zum Glück war nichts passiert, Ross und Reiter konnten sofort weiter proben. „Ich bin früher zehn Jahre im Verein geritten und freue mich jedes Mal, wenn Pferde dabei sind“.
Glatze und Koteletten
Der leidenschaftlichen Domi hat wirklich viel erlebt. "Einmal, das war beim ‚Steinernen Mann’, sollte ich eine Glatze haben. Da habe ich mir die Haare rasieren lassen, und alle standen auf dem Domplatz um mich herum und haben sich amüsiert.“ Als Zigarrenfabrikant muss er sich diesmal nach der Mode der Gründerzeit längere Haare und Koteletten wachsen lassen – beides sprießt bereits langsam. Für Menzen wurden die Domfestspiele zu einem wichtigen Lebenshobby. „Am Anfang habe ich immer gesagt, wenn ich nicht mitspielen kann, fahre ich weg. Das hätte ich nicht ausgehalten, zu wissen, das läuft gerade und ich bin nicht dabei.“
Luisa Ahrens, stadtbekannte Virtuosin an Diabolo und Devilstick war gleich in der ersten Produktion als Jongleurin in einer Gauklertruppe dabei. Besonderes Highlight für die stolze Mutter: „Mein damals 13-jähriger Sohn war auch schon sehr fit mit dem Diabolo, und wir konnten zusammen auf der Bühne stehen.“ Beim "Steinernen Mann", der ersten Produktion mit Hans König, sollte sie den "Tod" spielen. "Das kann ich nicht", habe sie gedacht: Ihre Gaukeleien sollten doch Spaß und Freude bringen. „Doch dann habe ich es trotzdem gepackt.“ Im pechschwarzen Gewand ließ sie ihre Diabolos wie eine Lebensuhr kreisen, und später musste sie den lebensmüden Hauptdarsteller bei böigem Wind mit einem rotierenden Devilstick vom oberen Bühnenrand begleiten: „Das war eine echte Herausforderung.“
Riesiger Sprung nach vorne
Auch für sie ist es unverzichtbar, bei den Domfestspielen dabei zu sein: „Diese Gemeinschaft, dieses Miteinander, das gibt es nur da, das habe ich vorher nicht gekannt.“ Und diese Beschreibung könne man überhaupt nicht überstrapazieren, findet Michael Bauckner: "Das ist einfach so." Seit Hans König das Zepter übernommen hat, haben Gemeinschaftssinn, Probenqualität und die gegenseitige Wertschätzung aller Beteiligten einen riesigen Sprung nach vorn gemacht: "Hans holt aus uns allen das Allerbeste heraus. Nicht nur schauspielerisch, sondern auch menschlich."
Bei „Bischof von Verden“ und „Mauerstreit“ hat Bauckner sich mit dem Virus infiziert. „Beim Mauerstreit war ich zugleich ein einbeiniger Nachtwächter und ein Domherr – zweieinhalb Minuten Umziehzeit zwischen den Szenen.“ Mit hochgebundenem Bein musste er über die Bühne hinken und sein Liedlein singen: „Das war so anstrengend, bei der letzten Vorstellung bin ich regelrecht ins Stadttor hineingefallen.“ Danach mussten Beruf und Familie ein paar Jahre vorgehen. „Aber gekribbelt hat es mich die ganze Zeit." Erst beim brennenden Mönch stieg er als fieser Bösewicht Radtke Holsten wieder ein: "Alles war sofort wieder da, die Freude und das tolle Gefühl, dazuzugehören.“ Besonders begeistert hat ihn damals die Zusammenarbeit mit Franziska Mencz, mit der der Zölibateur eine sündige Beziehung hatte: "Sie hat mich voll mitgezogen. Das war ein tolles Erlebnis, mit einer professionellen Schauspielerin zu arbeiten." In der "Rebellischen Hexe" hat Bauckner dann gemeinsam mit seinen Kindern auf der Bühne gestanden: „Das war für mich sehr emotional.“
______________________________________
Mit ganz viel Herzblut dabei: Bühnenbildner Henning Diers. Foto: FOCKE STRANGMANN
Tom Meyer und Gaby Kracke haben sich von Henning Diers schon jede Menge abgeschaut.
Foto: FOCKE STRANGMANN
Gleich mehreren Herausforderungen müssen sich die Bildner in diesem Jahr stellen. Warum sie ihre Tätigkeit so lieben.
Von Jörn Dirk Zweibrock
Bühnenbauer Henning Diers hat das halbe Dorf für die Verdener Domfestspiele eingespannt. In der Scheune von seinem Nachbarn werden die Kulissen gebaut, die fertigen Teile wandern später allesamt in den leeren Kuhstall von einem anderen Dorfbewohner. So ist das eben auf dem Land: In der Gemeinde Hilgermissen wird Gemeinschaft noch groß geschrieben. Ebenso im Bühnenbau-Team der "Domis", da geht alles Hand in Hand.
Das diesjährige Bühnenbild stellt das Team des gelernten Raumausstatters gleich vor mehrere große Herausforderungen: Zum einen müssen alle 105 Ensemble-Mitglieder auf der Bühne Platz finden, zum anderen muss sie während der Festspielzeit auch noch bei jeder Aufführung explodieren. Und dann ist da ja noch die Sache mit den Pferdestärken – Stichwort Mobilität. "Zu viel wollen wir aber noch nicht verraten", hält sich Bühnenbildner Diers diesbezüglich noch ein wenig bedeckt.
Klassenkampf im Carport
"Die Bühne ist in diesem Jahr so groß wie noch nie", erzählt Diers, der zum zweiten Mal für das Bühnenbild bei den Domfestspielen verantwortlich zeichnet. Auch die Abmessungen der Wandelemente hinter der Bühne haben es in sich: fünf Meter hoch und fünf Meter breit. Wie gut, dass Nachbar Klaus Weber aus Mehringen seine Scheune dafür eigens noch mit Strahlern nachgerüstet hat.
Auch die Bühne für das aktuelle Stück "Die Zündholzfrau" besteht wieder aus mehreren Ebenen. "Oberhalb der rund 150 Quadratmeter großen Bühnenfläche befinden sich links und rechts zwei Carport-ähnliche Kästen", zeigt Diers auf die von ihm angefertigte Skizze, die er im Laufe der Proben immer wieder an die Bedürfnisse der Protagonisten auf und hinter der Bühne angepasst hat.
Proletariat versus Bourgeoisie, Zündholzfabrik versus Salon – den auf die Bühne zu bringenden Klassenkampf stellen die beiden in Opposition angeordneten Kästen auf der oberen Ebene jedenfalls mehr als plastisch dar.
Halb Mehringen ist im Festspielfieber.
Ab Ende Juli wird es bei den Vorstellungen vor der Kulisse des Verdener Domes dann auf jeden Fall nach Schwefel und Phosphor riechen – nach Zündhölzern eben. Das aktuelle Stück spielt bekanntlich im Jahre 1878, einige Jahre zuvor hatte der schwedische Chemiker Alfred Nobel das Dynamit erfunden. Den Sprengstoff, über den Friedrich Nietzsche einst sagte: "Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit." Und schon ist Diers nach diesem kleinen Exkurs wieder bei dem von ihm entworfenen Bühnenbild mit Knalleffekt.
Viele Erfolgserlebnisse
Die fünf mal fünf Meter großen Kulissenteile, die Gaby Kracke und Tom Meyer in diesen Tagen zusägen, wird Diers später mit Dispersionsfarbe bemalen. Krackes Nachbar Tom aus Verden ist bereits seit Jahrzehnten Mitglied bei den "Domis", erst nur zahlendes, seit einiger Zeit nun aber auch aktives. "Joachim, Ramona und Jörg komplettieren unser Bühnenbau-Team", erzählen die beiden fleißigen Hobby-Handwerker, die sich nach eigenen Angaben schon so einiges in Sachen Heimwerken bei Diers abgeschaut haben.
Neben dem tollen Miteinander, "bei den Domis ist es wie in einer großen Familie", schätzen sie an ihrer Tätigkeit vor allem auch die Erfolgserlebnisse. Es sei einfach toll, bei der Generalprobe zu sehen, was sie in den vergangenen Monaten mit ihren eigenen Händen geschaffen hätten. "Dann sehen wir endlich, ob die Bühnenelemente nach dreimaligem Sägen nicht immer noch zu kurz sind", scherzen sie.
Seit nunmehr drei Monaten werkeln Diers und seine fleißigen Helfer schon an dem überdimensional großen Bühnenbild. "Pünktlich zur Premiere am 25. Juli muss alles fertig sein", wissen sie. Aufgebaut werde vor dem Verdener Gotteshaus aber schon alles zweieinhalb Wochen vorher. Nicht nur für das Bühnenbild, sondern auch um die Großrequisiten, "also alles, was größer als ein Stuhl ist", müssen sie sich kümmern.
______________________________________
Freut sich auf die Festspielsaison: Volker Schwennen. Foto: Vasil Dinev
Er ist nicht nur der Produktionsleiter, sondern auch Kultur- und Eventmanager des Vereins und sprudelt nur so vor Ideen. Warum Volker Schwennen in seinen Aufgaben so aufgeht.
von Susanne Ehrlich
Als Regisseur Hans König den Kulturmanager, Werbefachmann und freien Gestalter Volker Schwennen im Vorfeld der Domfestspiele 2022 fragte, ob er die Produktionsleitung des Freilichttheaters übernehmen wolle, gab es als erstes ein Gespräch mit dem Vorstand des Domfestspiel-Vereins. Danach musste Schwennen keine Sekunde mehr überlegen: Er wusste sofort, dass hier eine Herzensaufgabe auf ihn wartete.
"Das Besondere an den Domfestspielen war für mich, zu beobachten, wie das Miteinander funktioniert. Das hat mich von Anfang an motiviert, Teil des Ganzen zu sein und zu dieser Gemeinschaft zu gehören."
Begeistert habe ihn, wie König mit den Menschen arbeitet, wie sich dabei jede Szene nach und nach bis zur Perfektion entwickelt: "Das ist toll, das so nahe mitzuerleben."
Kontakte zur Wirtschaft
So war es für ihn überhaupt keine Frage, dass er auch für die "Zündholzfrau" die Produktionsleitung übernehmen würde, und nicht nur das: "Ich habe jetzt auch das Kultur- und Eventmanagement des Vereins übernommen. Da geht es um die Weiterentwicklung des Vereins, um die Darstellung in der Öffentlichkeit und um Aktivitäten zwischen den Produktionen."
Sehr wichtig ist Schwennen die Kontaktpflege mit der Verdener Wirtschaft, denn ohne Sponsoren keine Domfestspiele, und deshalb sei es lebenswichtig, auch auf diesem Parkett überzeugen zu können. Auch ist Schwennen der Kontaktmann für die Kooperation mit der Stadt Verden, zum Beispiel bei der Organisation des neuen Raums für die Kostümwerkstatt oder beim Kindertheater-Projekt für das städtische Ferienprogramm. Auch erschließt er Synergie-Effekte mit der Szene vor Ort.
Betrachten Kulturinteressierte die regionalen Theaterprojekte, so finden sie bei der Aller Bühne, beim Theater im Krug in Kirchlinteln und vielen kleinen Zwischendrin-Produktionen immer wieder dieselben Namen vor und hinter der Bühne. Auch im Kurzfilm über die lokale Frauenrechts-Ikone Anita Augspurg, der im vergangenen Jahr Premiere feierte, stoßen sie bei Regie, Hauptdarstellerin und vielen anderen Mitwirkenden auf die vertrauten Personalien.
Impulsgeber für die Kultur
"Wir haben den Wunsch, mit unseren Aktivitäten auch die kulturelle Entwicklung in der Stadt zu unterstützen, so wie die Stadt uns unterstützt," erklärt Schwennen seine Vorstellung von einem Geben und Nehmen. "Wir tauchen sozusagen in das Selbstverständnis der Verdener Kulturszene ein. Dabei möchten wir als Verein unsere Erfahrungen, unser Know-how und unsere Werkzeuge gern zur Verfügung stellen." All das hätten sich die Domfestspieler über die Jahrzehnte erarbeitet. "Nun wollen wir dieses Wissen nicht für uns behalten. Wir wollen Impulsgeber sein für andere Vereine, Gruppen und Initiativen, die Kultur als gemeinschaftliches Erlebnis verstehen."
Mit seinem breiten beruflichen Spektrum ist Schwennen die ideale Besetzung für seine Aufgaben als Produktionsleiter einer so riesigen Theaterproduktion. Er arbeitet auch sonst seit jeher mit vielen Menschen zusammen, organisiert digitale und analoge Ausstellungen, ist Kurator für Wirtschaftsunternehmen und verschiedene Kulturorganisationen und Juror für Kunstpreise, berät Museen bei Innovationen für zeitgemäße Präsentation oder bei Prozessen für mehr Teilhabe.
Für ihn haben Theater und bildende Kunst gemeinsam, dass sie viel bewegen: "Zeitgenössische Kunst wagt Experimente, stellt Fragen und eröffnet neue Blickwinkel auf unsere Welt. Soziokulturelle Theaterproduktionen holen diese Kraft mitten ins Leben. Sie verbinden künstlerische Qualität mit dem Wunsch, möglichst viele Menschen einzuladen und Teilhabe zu ermöglichen." Diese Atmosphäre der Begegnung, des gemeinsamen Nachdenkens und Erlebens sei es, was ihn an seiner Aufgabe fasziniere.
Professionelle Begleitung
Am Anfang jeder Produktion steht für Schwennen die Kalkulation der Kosten. In der gesamten Produktionsphase spricht er sich mit den Werkstätten und Teams ab, verwaltet das Budget, genehmigt Anschaffungen und andere Ausgaben. Alle Darstellerinnen und Darsteller werden von Profis angeleitet und unterstützt. Sie bekommen Unterricht in Tanz und Gesang und bei Hans König eine permanente professionelle Schauspiel-Weiterbildung. Die Teams hinter der Bühne bekommen Fortbildungen in Kostüm- und Maskenbildung und vielem mehr.
"Denn das ist ja das Besondere an unserer Produktion", betont Schwennen, "dass wir hier so viele Menschen ausbilden, die davon selbst einen großen Gewinn haben". So seien die Walzer-Stunden bei Jean Sasportes sehr wichtig für die Szene und die ganze Aufführung gewesen. "Und wenn unsere Kostümbildnerin sagt, sie braucht bestimmte Hüte, dann muss ein Hut-Workshop her, in dem sie ihr Können an ihr Team weitergeben kann", gibt Schwennen Beispiele für anfallende Kosten während der Produktion.
Auch zwischendurch schafft er immer mal wieder notwendige Gelder herbei: "Als die Idee entstand, ein Dampfauto zu bauen, brauchten wir nicht nur Leute, die das praktisch unterstützten, sondern auch Geld: Es musste ein Motor her, ein Gestänge, die Hydraulik und viele Einzelteile." Das Auto fährt bereits, und das gelang auch mithilfe engagierter privater Kleinspender.
Helfende Hände willkommen
"Wir können immer noch weitere Helfer hinter der Bühne gebrauchen, und auch Geldspenden für weitere Ideen, die wir gerne umsetzen würden." Jede noch so kleine Spende und jede helfende Hand sei willkommen: "Ich nehme alles", sagt Schwennen und lacht so verschmitzt, wie nur er lachen kann.
zum Originalartikel
______________________________________
Präsentieren das Plakat der diesjährigen Verdener Domfestspiele, bei denen sie als Akteure mitwirken (von links): Christian Hoffmann und Dr. Dirk Aue. © Suling-williges, Regine
Die Verdener Domfestspiel vom 25. Juli bis 9. August sollen rund 10 000 Gäste in die Stadt an der Aller locken.
Von Nala Dernier
Verden/Martfeld – „Wir üben wahnsinnig viel“, sagt Dr. Dirk Aue. Christian Hoffmann nickt zustimmend. Drei- bis viermal pro Woche laufen derzeit die Proben in der Turnhalle in Intschede. Hinzu kommen Sonderveranstaltungen an den Wochenenden. Das Ziel haben die beiden Martfelder genau wie die etwa 100 anderen, zumeist ehrenamtlichen Akteure klar vor Augen: die Verdener Domfestspiele, die vom 25. Juli bis 9. August rund 10 000 Gäste in die Stadt an der Aller locken sollen.
Die Besucher dürfen sich auf das Stück „Die Zündholzfrau“ freuen, das Regisseur Hans König eigens für die Domfestspiele geschrieben hat. Dabei handelt es sich um ein vielschichtiges Stück aus dem Jahr 1878 über die Konflikte zwischen der gehobenen Verdener Bürgerschaft, der die Fabriken gehörten, und den Arbeitern, die ausgebeutet wurden.
Eine schöne Aufgabe im Ruhestand
Als mittels eines Zeitungsartikels Ehrenamtliche zum Mitwirken gesucht wurden, meldete sich der Jung-Rentner Dirk Aue. „Meine Intention war es, eine schöne Aufgabe im Ruhestand zu haben“, erklärt er. Eine Rolle als Schauspieler hatte Aue dabei zunächst nicht im Visier. Das Casting aber änderte dies: „Ich habe früher schon bei der Göttinger Studio-Oper mitgewirkt und kleinere Rollen gespielt.“ Regisseur Hans König besetzte ihn schließlich für die Rolle des Richters Rabelius, der eine düstere Person verkörpert. „Das ist ein ganz schlimmer Finger“, findet Dirk Aue.
Christian Hoffmann wiederum mimt den Vorarbeiter in der Zündholzfabrik, der zwischen den Stühlen steht, nämlich zwischen den aufbegehrenden Arbeitern und seinem Firmenchef Stendel. Seinen ersten Auftritt hatte Hoffmann bereits vor rund 25 Jahren beim „Sommernachtstraum“, den Erwing Rau in Martfeld inszenierte.
„Dann sprach mich ein Arbeitskollege an“, berichtet Christian Hoffmann, wie seine Geschichte bei den Verdener Domfestspielen begann. Alle drei Jahre bringt das Ensemble ein Open-Air-Stück auf die 40 Meter lange Bühne am Verdener Dom – und seit mittlerweile 25 Jahren ist Christian Hoffmann dann immer dabei.
„Wir dürfen beide ab sofort nicht mehr zum Friseur“
Zu den normalen Proben kommen besondere hinzu. So wie das Wochenende, an dem alle Akteure gemeinsam mit einem Choreografen an zwei Tagen jeweils vier Stunden Walzer tanzten – den langsamen und den schnellen. „Wir haben gefühlt zwei Tage durchgetanzt“, sagt Christian Hoffmann. „Das war echt heftig“, fügt Dirk Aue an.
Seit Februar proben sie bereits und fiebern jetzt den Aufführungen entgegen. Dafür nehmen sie auch manches in Kauf: „Wir dürfen beide ab sofort nicht mehr zum Friseur“, sagt Christian Hoffmann. „Ich hatte heute Morgen Kostümprobe“, erzählt Dirk Aue und berichtet von seinem Outfit mit Richterrobe, Barett, weißer Krawatte und Zylinder.
„Das ist schon richtig Arbeit. Man muss sich da ganz schön reinhängen und einen Teil seiner Freizeit opfern“, findet Hoffmann. „Unseren Text haben wir schon drauf“, sagt er. Dirk Aue hat sich seinen Text als Sprachmemo ins Handy gesprochen und kann ihn auf diese Weise überall üben. „Dann spreche ich immer mit, zum Beispiel, wenn ich im Auto sitze.“
Noch finden die Proben in Intschede statt. „Da müssen immer alle da sein. Wir sind darauf angewiesen, dass die anderen als Stichwortgeber dabei sind“, erzählen die beiden Akteure. Derzeit spielen sie drei bis vier Szenen hintereinander. „Bald machen wir das mit Kostümen, und dann kommen die Durchlaufproben“, erklärt Dirk Aue.
Alle Domis vereint die Begeisterung, so ein Stück zu machen
Christian Hoffmann weiß übrigens schon genau, wie es ihm nach dem Abschluss aller jeweils rund zweieinhalbstündigen Aufführungen gehen wird: „Dann fällt man in ein tiefes Loch.“ Davon geht auch Dirk Aue aus: „Man wird traurig sein, wenn es vorbei ist.“
Erst mal geht es aber so richtig los. Darauf freuen sich die beiden Martfelder sehr. „Wir singen und tanzen alle, im Stück ist richtig Bewegung drin“, erzählt Dirk Aue. Großartig findet er noch einen weiteren Umstand: „Es ist spannend, neue Leute kennenzulernen. Alle vereint die Begeisterung, so ein Stück zu machen. Das ist eine richtige Gruppenveranstaltung.“ Dem pflichtet Christian Hoffmann mit seiner langjährigen Erfahrung bei: „Wir sind eine echte Domfestspiele-Familie.“
______________________________________
Störtebeker ist die Paraderolle von Bernd Maas. Foto: FOCKE STRANGMANN
Bernd Maas, ein Mann mit vielen Gesichtern: von der Bühne der Domfestspiele bis hin zu einem spannenden Filmprojekt. Der Schauspieler und Sozialpädagoge spricht über seine Rollen und die Herausforderungen.
von Susanne Ehrlich
Der Kirchlintler Schauspieler und Sozialpädagoge Bernd Maas muss einen riesigen Hut haben. Sonst würden auf keinen Fall ein Vollzeitjob, eine Hauptrolle bei den Domfestspielen und ein spannendes Filmprojekt darunter passen. Schon gar nicht, wenn da auch noch eine Familie und ein altes Haus mit einem großen Garten drunterstecken.
In Kirchlinteln kennt man ihn vor allem als zweite Hälfte des liebenswerten plattdeutschen Komödianten-Duos Edi und Karl. In Verden darf er als ruppiger Klaus Störtebeker Heringe unter das Volk werfen. Im Jahr 2023 stieg er als Massenmörder Friedrich Haarmann in die tiefsten Abgründe des Unvorstellbaren. Bei den Domfestspielen 2025 ist er der Arbeiterführer Otto Breden, für den Verrat die schlimmste aller Todsünden ist.
Identifikation mit der Rolle
Woher nimmt ein Mann, der in Beruf und Privatleben den Typ "warmherziger Fels in der Brandung" verkörpert, all diese gegensätzlichen Charaktere und Gesichter? "Das ist halt die Arbeit des Schauspielers: Man spielt ja nie sich selbst, sondern immer die Typen, die man verkörpert." Man müsse sich hineinfühlen in deren Leben, müsse den Habitus, die Stimme, die typischen körperlichen und charakterlichen Eigenarten übernehmen. "Dazu gehören auch Recherchen zur Epoche, der sozialen Situation, zu Alltag und Lebensbedingungen der Menschen, die ich spiele", erklärt Maas. "Zum Beispiel war zurzeit der 'Rebellischen Hexe' ein Sohn generell viel wertvoller als eine Tochter, und das musste ich als Margarethes Vater sichtbar machen."
Ganz unvorstellbar für Maas, dessen 16-jährige Tochter Swantje mit ihrem Schauspiel-Talent bereits in seine Fußstapfen getreten ist. Die Rolle des Otto Breden dagegen komme ihm sehr nahe: "Ich habe mich seit jeher in Gewerkschaft und Betriebsräten engagiert." Auch mit der Ideologie des 'Kommunistischen Manifests' könne er einiges anfangen, und es sei ihm ebenso wie seiner Figur Otto selbstverständlich, sich für andere einzusetzen.
Plattdeutsch-Unterricht in Luttum
"Otto ist ein typischer Arbeiter und guter Kollege, der seine Schwester Clara über alles liebt. Dass sie sich in den Klassenfeind verliebt, das ist für ihn kaum zu ertragen!" Die Schwester werde in Ottos Augen zur Verräterin, und auch sonst gehe es in dieser Rolle so richtig ans Eingemachte: "Es gibt eine sehr schlimme Szene, auf die muss ich mich besonders gut vorbereiten", verrät Maas, doch was da genau passiere, das müsse bis zur Premiere verschwiegen werden.
Die meisten Domfestspiel-Darsteller und Darstellerinnen sind Laien. Nur wenige Rollen sind mit professionellen Schauspielern besetzt. Auch Maas hat eine abgeschlossene Schauspiel-Ausbildung: "Neben meinem Beruf habe ich ab 1998 die Schauspielschule am Ernst-Waldau-Theater besucht. Ich hatte ein Stipendium und musste nichts bezahlen, irgendwas müssen die in mir gesehen haben." Nach zweieinhalb Jahren hielt er seinen Abschluss in den Händen: die offizielle Bühnenreife.
Maas hat schon immer gern auf der Bühne gestanden. Nach zwölf Jahren bei der Bundeswehr hatte er ein Studium der Sozialpädagogik in Oldenburg aufgenommen und war danach mit seiner jungen Familie in sein Elternhaus in Kirchlinteln eingezogen. Auf einem der ersten Feste in seiner alten Heimat traf er einige Leute von der Luttumer Speeldeel. "Du bist so ein Lustiger", hieß es da, "Du musst Theater spielen". Maas ließ sich breitschlagen und hatte seinen ersten Auftritt bei "Snider Nöhrig" in der Spielzeit 1990/91. "Das hat mir viel Spaß gemacht, obwohl ich da noch kein Wort Plattdeutsch konnte. Zuerst habe ich oft gar nicht verstanden, was meine Mitspieler zu mir gesagt haben."
Lebenslanges Lernen
Als er zum ersten Mal bei der Daverdener Freilichtbühne einsprang, kam am nächsten Tag ein Anruf von Dieter Jorschik. "Er fragte mich, ob ich im Bischof von Verden den 'starken Mann' auf dem Jahrmarkt spielen möchte." Doch kurz vor der Uraufführung der allerersten Domfestspiele sei ein Darsteller ausgefallen, und er musste die viel größere Rolle als Domdechant Gernot von der Borm übernehmen. Und nun schloss sich der Kreis zu seiner Schauspieler-Laufbahn: "Bei einer der Vorstellungen saßen zwei Lehrer der Bremer Schauspielschule im Publikum. Die haben mich nach der Vorstellung direkt angesprochen." So kam es, dass Maas nun zwei Berufe hat, die sich zeitlich manchmal ganz schön drängeln müssen. "Das Gute daran ist: Ich kann als Schauspieler immer das machen, wozu ich Lust habe, weil ich finanziell nicht abhängig bin."
Seit seiner Theater-Ausbildung gab es für ihn bei den Domfestspielen immer größere Rollen, er spielte in zahllosen Produktionen in Verden und umzu mit, gründete sein eigenes "Theater im Krug" in Kirchlinteln und wurde gerade nach vier Casting-Runden für eine spannende plattdeutsche Filmproduktion mit dem Titel "Drakohla" als einer von zwei Schnapsbrennern engagiert. Der Film soll in allen norddeutschen Kommunalkinos laufen.
Doch Maas hat immer an seiner Arbeit als Sozialpädagoge festgehalten, denn der bedeutet nicht nur einen festen Broterwerb für die Familie, sondern auch viel berufliche Erfüllung für ihn selbst. Er arbeitet in der ambulanten Familienhilfe vor Ort und als Kinderschutzfachkraft im Krisendienst und hat gerade eine Fortbildung als Trennungs- und Scheidungsmoderator abgeschlossen. Lebenslanges Lernen ist für Maas ein Muss: "Stehenbleiben gibt es nicht."
zum Originalartikel
______________________________________
Fundus der Domfestspiele zieht in ein ehemaliges Geschäft in der Fußgängerzone
Von Christel Niemann
Kostümprobe für die Domfestspiele im neuen Domizil: (v. li.) Volker Schwennen, Marga Prange, Beate Ambroselli und Ralf Böse. Foto: FOCKE STRANGMANN
Die Kostümwerkstatt der Domfestspiele Verden hat neue Lagerräume. Der ehemalige Blumenladen "Blickfang" bietet ausreichend Platz und liegt in unmittelbarer Nähe zum Domplatz.
von Susanne Ehrlich
Eine Kolonne nagelneuer Kleiderständer holpert über das Kopfsteinpflaster der Syndikatstraße: Heute ist Umzugstag in der Kostümwerkstatt der Domfestspiele. Da packen nicht nur die Nadelkünstlerinnen mit an, sondern auch aus den anderen Gewerken sind helfende Hände gekommen, um die Kostüme für die "Zündholzfrau" aus dem dunklen und engen Quartier in der ehemaligen Spielhölle ganz in die Nähe des Doms zu schaffen.
Marga Prange, Beate Ambroselli, Katrin Ellmers, Ilse Schubert und Gaby Kracke haben den Abzug generalstabsmäßig vorbereitet. Schon nach einer Dreiviertelstunde sind alle Pkw bis zum Rand voll Kleider, und der große Lieferwagen hat die Kleiderständer im Bauch. Auch Biertischgarnituren, Stühle, Spiegel und andere "kostümrelevante" Inventarstücke müssen mit. Nicht nur die starken Männer vom Bühnenbau, sondern auch Vereinschef und Produktionsleiter packen kräftig mit an.
Lagerraum im ehemaligen Laden
"2022 hatten wir ja den Laden an der Ecke Große Straße/Norderstädtischer Markt", erklärt Ralf Böse. Dieser sei danach anders genutzt worden, und der Kostümwerkstatt sei diesmal das Untergeschoss in der Syndikatstraße angeboten worden. "Aber dadurch, dass wir 100 Menschen auf der Bühne haben werden, ist dort einfach nicht genug Platz für alle Kleider und die vielen Anproben", so Böse. Darum habe der Verein bei der Stadt angefragt, ob es eine andere Lösung gebe, und sei auf offene Ohren gestoßen. "Heute können wir für die Dauer dieser Produktion in die Große Straße 113 einziehen." Der ehemalige Blumenladen "Blickfang" bietet einen hellen, großen Ladenraum, gerade richtig für ein Kostüm-Atelier, gute Sanitär- und Lagerräume und eine breite Schaufensterfront, an der sich von nun an Freunde der Domfestspiele und andere Neugierige die Nase plattdrücken dürfen. Besonders erfreulich: "Wir müssen lediglich eine Nebenkosten-Pauschale zahlen und sind sehr dankbar für diese tolle Unterstützung der Stadt Verden für unser Projekt", so Böse.
"Ich habe heute mal eine tragende Rolle", lacht Volker Schwennen, der fast unter dem letzten Kostümberg in seinen Armen versinkt, und schon geht es ab in die Große Straße.
Beate Ambroselli ist des Lobes voll: "Ich bin begeistert! Licht, Luft, gute Toiletten – das ist eine ganz große Verbesserung." Die 76-jährige Modedesignerin hatte seit der allerersten Stunde der Domfestspiele die künstlerische Leitung der Kostümwerkstatt inne; in diesem Jahr hat die Bremer Modedesignerin Christin Bokelmann sie abgelöst. "Ich musste mich endlich entschließen, ein wenig kürzerzutreten", so die Modekünstlerin, die sich im Ruhestand noch gar nicht so recht zu Hause fühlt: "Mit den Domfestspielen kann man nicht einfach aufhören, aber ich bin jetzt ins zweite Glied zurückgetreten, und es ist schön zu sehen, dass schon die nächsten heranwachsen", sagt sie und zwinkert der kleinen Maila Prange (7) zu, die heute mit der Oma mitfahren durfte. Marga Prange ist für den organisatorischen Ablauf in der Kostümwerkstatt verantwortlich: "Wir haben nur die Kostüme mitgenommen, die für die Streichholzfrau gebraucht werden, der Rest bleibt in der Syndikatstraße."
Kooperation mit Bremer Theater
Ein großer Teil der Kostüme werde jedes Mal ausgeliehen. "Für das "Geheime Attentat" haben wir sogar historische Kostüme aus Babelsberg bekommen", erinnert sich Prange, und mit dem Bremer Theater bestehe seit Langem eine gute Kooperation. "Diesmal müssen wir fast alle Kostüme leihen. Wir haben nur einige einfache Röcke und Schürzen für die Arbeiterinnen genäht, das Volk ist jetzt fast fertig eingekleidet."
Der Großteil der Arbeiterkostüme war schon vor Wochen in der Syndikatstraße eingetroffen. Inzwischen sind alle Kleider sortiert, sorgfältig auf die eigens angeschafften großen rollenden Kleiderständer gehängt und an ihren Platz gebracht worden.
"Die Räumlichkeiten lassen sich auch viel besser gliedern", freut sich Ambroselli, das sei sowohl für die kommenden Anproben als auch für Besprechungen im Team eine große Erleichterung. Mithilfe einer Biertischgarnitur ist ein freundliches abgetrenntes Büro entstanden; auch die Anproben sind nicht ganz so "öffentlich" wie in der ehemaligen Spielhalle, die nur aus einem einzigen niedrigen und dunklen Raum bestand.
In diesen Tagen werden auch die Gewänder der reichen Bürger eintreffen. "Und die sind reichlich voluminös", weiß Ambroselli, die sich wie keine andere mit historischen Modestilen auskennt. Da kam der Ortswechsel gerade noch zur rechten Zeit.
Geringe Entfernung zum Domplatz
Für die Kostümfrauen liegt ein weiterer großer Vorteil des Umzugs in der geringen Entfernung zum Domplatz: Anfang Juli müssen die Kostüme ein weiteres Mal umziehen, denn dann werden die Container auf dem Platz stehen. Und von dort aus sind es dann nur fünf Gehminuten bis zur Werkstatt.
Volker Schwennen freut sich, dass die Domfestspiele durch das neue Quartier noch mehr in die Öffentlichkeit rücken: "Wir werden den Laden für verschiedene Aktionen öffnen", kündigt der Produktionsleiter an, "und auch sonst für die Leute ansprechbar sein".
Über die einzelnen Aktionen bis zur Premiere kann man sich jeweils im Schaufenster informieren. "Um Ostern herum wird es hier richtig schick werden", verspricht Schwennen, "dann gibt es hier Plakate, Fotos und viele andere Einblicke in unseren Probenprozess, und auf einem Monitor kann man sich Videos von unseren Proben anschauen".
Zum Originalartikel
______________________________________
Kostümprobe: Prinzessinnen, Ritter und Räuber bereiten sich auf ihre Rolle vor.
Foto: Vasil Dinev
Kinder entdecken ihre Kreativität bei den Domfestspielen Verden. In nur drei Stunden entwickeln sie ein eigenes Theaterstück. Ein Abenteuer, das mehr als nur Spaß und Spiel bietet.
von Susanne Ehrlich
Brainstorming im Fundus der Domfestspiele: Zehn Kinder planen ein Theaterstück, das von der Entstehung bis zur letzten Aufführung genau drei Stunden dauert. Das Angebot, das Volker Schwennen und Michaela Rampp als Teil des Ferienprogramms der Stadt Verden organisieren, ist für die Kinder im Alter zwischen neun und zwölf Jahren mehr als Spaß und Spiel: Hier können sie sich ganz neu entdecken.
Schon der Auftakt des kleinen Projekts ist ein Abenteuer: Die Kinder dürfen sich zwischen all den vielen Kostümen und bunt übereinandergestapelten Requisiten umsehen. Schnell sind Ritterrüstung, Schwert und die bleischwere Fußfessel der "Rebellischen Hexe" ausgemacht. Geheimnisvolle Gewänder und coole Hüte offenbaren eine Fülle spannender Möglichkeiten.
"Wir wollen gerne Ritter sein", sind sich Maximilian und Mattis einig. "Ich bin Jack the Ripper", ruft der elfjährige Hagen, und Emil, ebenfalls elf Jahre alt, will Robin Hood spielen. Mina, Nora und Hanne wollen Prinzessinnen sein – unwiderstehlich ist die Aussicht, ein schönes Kleid zu tragen und perfekt geschminkt zu werden. Selina mag lieber eine Kämpferin sein, und Ida und Mia sind Agentinnen mit vorerst noch unbekanntem Auftrag.
Ein Entwurf liegt in der Luft
Gleich liegt der Entwurf für das Stück in der Luft: Die Fußfessel inspiriert zu einer Entführung, und Prinzessin Hanna steht für den gruseligen Part gern zur Verfügung. Der Bösewicht ist auch bereits gesetzt, und routiniert spinnt Emil einen roten Handlungsfaden: "Es kann ein Ritterturnier geben, und sie duellieren sich um die Prinzessin, und dann kommt Jack the Ripper und entführt sie. Sie versuchen, sie zu finden, und treffen Robin Hood und seine Agentinnen." Alle sind sich einig, dass es am Ende einen Kampf geben wird und die Geschichte gut ausgehen soll.
Der Fundus der Domfestspiele Verden ist auch Inspirationsquelle.
Theaterpädagogin Michaela Rampp hat sich bisher weitgehend zurückgehalten und den Ideenfluss nur hin und wieder ein wenig kanalisiert. Nun schlägt sie die nächsten Schritte vor, und mit Begeisterung kleiden sich die Kinder gemäß ihren Rollen ein. Susanne Fricke, Mitarbeiterin im Masken-Team der Domfestspiele, hat ein ganzes Schmink-Equipment dabei, und Gaby Kracke zaubert aus dem Requisiten-Schatz alles Gewünschte hervor. Aus einer der Prinzessinnen ist inzwischen die Königin geworden, die auf dem Thron inmitten ihrer Töchter Platz nimmt. Aufmerksam beobachtet Rampp den Schwertkampf der Ritter und sorgt mit Ruhe und Konsequenz für die Einhaltung wichtiger Regeln.
Hofnarr und Diener
Volker Schwennen, nicht nur Produktionsleiter der Domfestspiele, sondern auch Kultur- und Projektmanager des Vereins, ist mitten im Geschehen und wird dabei selbst wieder zum Kind. Gewohnt, auf Augenhöhe mit allen Akteuren zu agieren, ist er auch jetzt Teil des Teams und wird auf Zuruf der Kinder mal zum Hofnarren, mal zum Diener.
Als alle Szenen stehen, gibt es erst mal eine kleine "Kekspause". Alle Kinder sind sichtlich im Theaterfieber, einige von ihnen kannten das Gefühl bereits. "Wir haben am Domgymnasium ein Musical gemacht", erzählt Fünftklässlerin Mia, "da war ich ein Elf". Als sie das Ferienangebot entdeckt hat, hat sie sich sofort angemeldet: "Ich liebe Theaterspielen." Auch Viertklässler Maximilian kennt sich schon ein bisschen aus: "Mir hat Theater schon immer Spaß gemacht." An seiner Schule gebe es eine Theater-AG, außerdem habe er schon mit Freunden einen eigenen Film gedreht: "Ein Mittelalter-Drama mit Kostümen." Maximilian und Mia sind ebenso wie die anderen Kinder Feuer und Flamme: "Sehr spannend und toll" findet Mia das Angebot, und dann wird es ernst mit der Aufführung.
"Wichtig ist, dass ihr euch gegenseitig unterstützt, die anderen aussprechen lasst und ihre Ideen mit reinnehmt," lautet Rampps einzige Regieanweisung. "Das soll ja keine Ein-Mann-Show werden, sondern ein gemeinsames Stück." Mehrere Male spielen sie die Handlung durch und werden dabei immer mutiger. Die Dialoge werden spontaner und witziger, die Kinder wachsen in ihre Rollen hinein. Viel zu früh ist der Spaß zu Ende.
Engagement in Projekten
Dass Volker Schwennen sich so viel Zeit für die Ferien-Aktion nimmt, ist für ihn selbstverständlich: "Das Engagement in soziokulturellen Projekten gehört ja zum Konzept des Domfestspiel-Vereins." Als die Stadt Verden angefragt habe, ob dieser sich am Ferienprogramm beteiligen wolle, habe er sofort zugestimmt. "Mir macht die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen Freude. Manche von ihnen sind noch nie mit Theater in Berührung gekommen, und es ist immer wieder toll zu beobachten, wie viel Kreativität sie gemeinsam entwickeln können."
zum Originalartikel
______________________________________
Lebt ein Doppelleben als Bürgerliche und Künstlerin: Birgit Scheibe. Den Wechsel hinter die Bühne hat sie nie bereut. Foto: FOCKE STRANGMANN
Als Regieassistentin hält Birgit Scheibe Hans König den Rücken frei. Die Schauspielerin über ihre neue Rolle, Anita Augspurg und die "Vertrauensatmosphäre" unter den "Domis".
von Susanne Ehrlich
Wenn Birgit Scheibe am wenigsten Zeit hat, hat sie die meiste Energie: Ihr Doppelleben hat wieder begonnen! Bereits zum dritten Mal steht die freie Schauspielerin und Mitarbeiterin der Koordinierungsstelle Frau und Wirtschaft des Landkreises Verden als Regieassistentin der Domfestspiele an der Seite von Regisseur Hans König. Ihre eigene schauspielerische Erfahrung und Professionalität ist eine gute Mitgift für diese Verbindung.
Was macht eigentlich eine Regieassistentin? "Ich bin das Bindeglied zwischen Hans, dem Ensemble, den Gewerken und dem künstlerischen Betriebsbüro", umreißt Scheibe mit wenigen Worten ihren komplexen Aufgabenbereich. Dabei geht es darum, dem Regisseur den Rücken freizuhalten und alle Angelegenheiten zu regeln, die nicht unbedingt "Chefsache" sind.
Rechte Hand des Regisseurs
"Hans macht sehr viele Dinge selbst. Es ist faszinierend, wie er zu jeder Zeit das große Ganze im Auge hat und sich ebenso um kleinste Details kümmert." Doch bei einem Ensemble von fast hundert Mitwirkenden auf der Bühne und noch einmal fast der Hälfte dahinter ist seine "rechte Hand" für ihn einfach unverzichtbar. Als direkte Ansprechpartnerin steht Scheibe allen Mitwirkenden zur Verfügung. Außerdem ist sie bei allen Proben dabei, hat während der Teil-Durchläufe alle Anwesenden im Blick und kennt die Probenzeiten und die dafür benötigten Personen jeder einzelnen Szene: "Man darf sich das ja nicht so vorstellen, dass immer alle auf einmal proben." Wenn der Regisseur beispielsweise mit Einzelgesprächen beschäftigt sei oder intensiv an einer bestimmten Szene feilen müsse, bereite sie eben mit den anderen bereits den nächsten Auftritt vor: "Ich beginne dann schon mit der Stellprobe, damit es zügig weiter geht, bespreche Details, die sich geändert haben oder erinnere an Regieanweisungen, die zu beachten sind." Das sei ein ständiges Hand-in-Hand-Arbeiten.
"Ich arbeite sehr gern in diesem Team, es gibt eine tolle Vertrauensatmosphäre zwischen uns." Damit meint Scheibe das ganze "Dreigestirn" in der Probenhalle: Regie, Regieassistenz und Hiltrud Stampa-Wrigge, die alle Termine, Veränderungen und Ausfälle verwalten muss. Die Regieassistentin ist sehr froh darüber, dass Hans König in jeder Hinsicht ein Teamworker ist: "Meine eigenen Ideen hört er sich immer erstmal an und denkt darüber nach." Nicht alles, aber so manches fließe dann in die Aufführung mit ein.
Textarbeit ist das A und O
Sehr wichtig sei die Arbeit mit dem Text: "Während der Proben muss ich alle Veränderungen dokumentieren, Kürzungen, Ergänzungen oder Umstellungen", erzählt die Regieassistentin. Manchmal müsse sie ganze Textteile neu einpflegen, die dem Ensemble bereits am nächsten Probentag vorliegen müssen. Dass der Regisseur zugleich der Autor sei, mache die Sache unkompliziert.
Für jede Szene macht Scheibe eine Skizze mit allen Positionen, Läufen und Einsätzen. "Wenn eine Szene fertig ist und erstmal nicht weiter geprobt wird, muss später ja alles wieder präsent sein!" Natürlich müsse sich jeder und jede Mitwirkende an diese Dinge selbstverantwortlich erinnern. "Aber in der Arbeit mit so vielen Leuten gerät immer mal etwas in Vergessenheit, und dann ist es gut, dass ich das Gedächtnis der Produktion bin."
Begeistern kann sich die Regieassistentin auch für Königs Choreografie-Arbeit: "Außer der Walzer-Szene und dem Auftritt der Cancan-Tänzerinnen vom TSV Etelsen erfindet er alle Tanzszenen selber. Dann muss ich seine 'Vorkosterin' sein. Er tanzt mir die Szene vor, ich dokumentiere das und dann muss es auf Abruf parat sein." Beim Walzerwochenende mit Jean Sasportes hatte Scheibe die Probentage allein übernommen, König kam erst zuletzt hinzu. "Dadurch kann ich jetzt auch alle Walzerproben anleiten und alle, die nicht dabei sein konnten, auf den Stand der Dinge bringen."
Lebensrolle "Anita Augspurg"
Für Birgit Scheibe, deren "Lebensrolle" Anita Augspurg weite Strecken ihrer schauspielerischen Vita begleitet hat, ist die Zeit, in der die "Zündholzfrau" handelt, besonders spannend. "Das derbe Mittelalter erforderte ein völlig anderes Spiel. Diesmal werden wir in der 'gehobenen Gesellschaft' viel Feines, Wohlerzogenes und auch Dünkelhaftes erleben." Es sei beeindruckend zu beobachten, wie während des Stückes der Widerstand aufzukeimen beginnt: "Vor allem die Arbeiterinnen fühlen sich zum ersten Mal als Menschen, die nicht einfach alles hinnehmen müssen, sondern selbst etwas verändern können."
Im Stück spielt auch die Verdenerin Anita Augspurg eine Rolle. "Natürlich spiele ich sie nicht selbst, sie ist zu der Zeit ja noch sehr jung, und außerdem kam für mich in dieser Produktion keine Bühnenrolle infrage." Auch wenn ihr dabei ein bisschen das Herz blutet – zu umfangreich sind ihre Aufgaben hinter der Bühne, und nun sei es eben diese Rolle, die sie ganz und gar ausfülle.
"Was mich fasziniert, ist, dass die Domfestspiele auch ein soziokulturelles Projekt sind, bei dem alle mit ihren Gaben und Persönlichkeiten ihren Platz finden, auf dem sie sich einbringen können." Gerne erinnert sich Scheibe, die bei der ersten Domfestspiel-Produktion 1998 noch jung war, an viele Gesichter der ersten Stunde, die heute längst fehlen. Aber all die "Neuen" wachsen stets sofort in die Gemeinschaft hinein. "Ich fühle mich beschenkt, wenn ich dieses Vertrauen erlebe, mit dem Menschen, die noch nie auf der Bühne gestanden haben, ohne Angst und mit so viel eigener Kreativität in das Stück hineinwachsen."
zum Originalartikel
______________________________________
Tanzprofi Jean Sasportes (l.) zeigte sich am Ende der Proben beeindruckt. Foto: Michael Galian
Tanzkurs für die Domfestspiele: Bei den Proben stand der Walzer im Mittelpunkt. Foto: Michael Galian
Unter der Anleitung des renommierten Choreografen Jean Sasportes bereiten sich die Schauspielerinnen und Schauspieler auf eine große Festszene vor. Von Arbeitern bis zur Bourgeoisie, alle sind dabei.
von Susanne Ehrlich
Internationale Tanzprominenz zu Gast in der Intscheder Mehrzweckhalle: Der bekannte Tänzer und Choreograf Jean Laurent Sasportes wurde zum Coach für die Bühnen-Hundertschaft der Domfestspiele. Von 1979 bis 1996 gehörte der Mann mit der leisen Stimme und den sanften Bewegungen im Tanztheater Wuppertal unter Pina Bausch zum festen Ensemble und war an der Entstehung von zehn ihrer Stücke beteiligt.
Jetzt müssen alle den Walzer lernen, denn in der großen Festszene soll ganz Verden tanzen – von den Zündholz-Arbeiterinnen und Zigarrenmachern bis zur Haute Volée der Verdener Bourgeoisie.
Die Choreografie ist noch im Entstehen. Regisseur Hans König weist ein: "Ihr tretet so auf, wie es eurer Rolle entspricht. Die Polizeibeamten machen sowas ja nicht jeden Tag. Ihr kommt ganz unsicher rein und müsst erstmal jemanden finden, mit dem ihr tanzen könnt." Die Fabrikarbeiterinnen haben kein Problem: Sie tanzen einfach miteinander. Auch der Schluss der Ball-Szene wird bereits ins Auge gefasst: "Nach dem Tanz geht ihr ganz zufrieden ab mit dem Gedanken 'Das Fest ist vorbei'. Das Publikum guckt euch ja dabei zu, wie ihr den Tanzsaal verlasst. Also bitte nicht einfach von der Bühne laufen, sondern angeregt und dynamisch, in Gespräch und Geschäftigkeit."
Anderthalb Tage Walzer
Anderthalb Tage haben sie mit Jean Sasportes den Walzer geübt – viele der Domis können tanzen, doch einige von ihnen stehen vor der Herausforderung, ihre Füße zu völlig unbekannten Bewegungen zu sortieren, so wie Eckhard Berthold: "Ich war nie bei der Tanzschule und konnte den Walzer zuerst überhaupt nicht. Jean hat das so gut gemacht. Wir haben die Bewegungen step by step gelernt. Er hat uns jede einzelne Sequenz ganz differenziert gezeigt, bis sogar ich das kapiert habe."
Ganz anders sieht es bei Uta Sieber aus: "Ich habe früher viele Jahre Turniertanz gemacht und hab' das so'n bisschen im Blut." Auch sie ist begeistert von Sasportes: "Er ist wirklich großartig, hat alles supergut erklärt und jeden von uns da abgeholt, wo er gerade war. Das hat unheimlich Spaß gemacht." Die routinierte Domfestspielerin ist diesmal eine Arbeiterin. Zuerst tanzt sie mit einer Frau aus ihren Reihen. "Aber dann werde ich ein bisschen frech und schnappe mir den Bürgermeister. Der weiß gar nicht, wie ihm geschieht."
Und nun wird es ernst: Akribisch werden die Nummern verteilt, nach denen die Leute in den Tanzsaal kommen. "Denkt daran", mahnt der Regisseur und zeigt von einer Längs-Hallenmarkierung zur anderen, "ihr habt nur so viel Tiefe auf der Bühne. Wenn ihr über den grünen Strich tretet, fallt ihr runter."
Musik mit starker Dynamik
König hat Aram Khatchaturjans Walzer aus der Masquerade Suite ausgewählt. Der ist zwar Jahrzehnte nach der Zeit entstanden, in der das Stück spielt, aber er hat sich ganz bewusst für diese große Musik mit ihrer starken Dynamik und den erregenden Stimmungswechseln entschieden.
Selbstvergessen, voller Vorfreude treten die ersten Arbeiterinnen auf die Bühne, einige wenige Arbeiter haben sich auch getraut. Sie bilden Paare und beginnen zu tanzen, raumgreifend und walzerselig. Doch da treten die Protagonisten der bürgerlichen Elite in die Mitte der Tanzenden: Wie mit zwei strengen Ellenbogen schieben sie das Arbeitervolk von der Tanzfläche, machen sich in aller Eleganz breit und lassen den anderen nur den rechten und linken Rand. Die Szene wird mehrmals geprobt, und jedes Mal ist sie noch anschaulicher, noch intensiver.
Ebenso wie Hans König besitzt Sasportes die Gabe, tief in die Menschen hineinzuschauen, bis dorthin, wo ihr wirkliches Wesen steckt. So wird jeder und jede der Anwesenden im Lauf des Geschehens zu einem eigenen Charakter. Da tanzt keine Menge, sondern da bewegen sich individuelle Figuren mit den Geschichten, die sie auf der Bühne zu erzählen haben – ganz gleich ob mit oder ohne Sprache.
Erstaunliche Vermengung der Klassen
Uta Sieber schnappt sich den ungelenken Bürgermeister Uwe Pekau, der sich gerade am Rand des Saals verstohlen den Schweiß von den Achseln gewischt hat. Aber die erstaunlichste Vermengung der Klassen geschieht ganz unbemerkt: Wie von unsichtbaren Fäden gezogen, bewegen sich Arbeiterführerin Klara und der Unternehmer Willibert Stenzel aufeinander zu, Letzterer zuerst noch am Arm seiner Gattin, doch dann verschwindet er im Gewusel, die Blicke treffen sich, dann die Arme, und der Ausdruck, mit dem die frisch Verliebten sich ansehen, lässt das Herz eine Sekunde lang stillstehen.
Jean Sasportes ist beeindruckt: "Ich habe ja schon oft mit Laien gearbeitet, aber die Tage hier waren ganz besonders für mich." Mit König hat er bereits in mehreren Produktionen zusammengearbeitet, gemeinsam haben sie auch diese Walzer-Szene entwickelt. "Ich bin sehr zufrieden. Die Leute sind so produktiv, sie sind verständnisvoll und geduldig." Alles, was er gezeigt habe, sei sofort umgesetzt worden. Zuletzt hätten selbst die Anfänger auch die schnellere Version beherrscht, sodass das Team nun während des Stückes vom langsamen zum schnellen Walzer wechseln und die Dynamik der Choreografie noch intensivieren könne. Und genau diese spontane Flexibilität begeistert den Regisseur: "Man kann mit Jean wundervoll im Prozess arbeiten. Man spürt, dass er sich in einer kosmopolitischen Szene bewegt, die über die ganze Welt agiert."
zum Originalartikel
______________________________________
Mit ganz großer Geste zeigt Jean Laurent Sasportas den Darstellern der diesjährigen Domfestspiele, worauf es beim Walzertanzen ankommt. © Niemann
Ensemble absolviert Walzer-Workshop mit Jean Laurent Sasportas. Schauplatz von Intrigen, Eifersucht, Machtkämpfen und bitterem Verrat.
Von Christel Niemann
Beim Tanztheater Pina Bausch in Wuppertal unvergessen und nach wie vor als Dozent und Tanzlehrer aktiv ist Jean Laurent Sasportas. Am vergangenen Wochenende brachte der langjährige Solotänzer den Domfestspielern während eines zweitägigen Workshops das Walzertanzen bei. Diese Fähigkeit werden die Darsteller vor dem mächtigen Verdener Dom auch brauchen, wenn am Freitag, 25. Juli, „Die Zündholz Frau“ von Hans König Premiere feiert. Der Autor Hans König hat erneut die künstlerische Leitung übernommen, unter seiner Regie wird der Domplatz zu einem Schauplatz von Intrigen, Eifersucht, Machtkämpfen und bitterem Verrat.
Darum geht es genau: Im Deutschland des Jahres 1878 spitzt sich die politische Lage zu, es gibt Attentate und aufmüpfige Arbeiter werden mittels Sozialistengesetz rigide verfolgt. In Willibert Stendels Zündholzfabrik in Verden kommt es aufgrund der politischen Verwerfungen mit den Arbeitern zu Sabotagen. Eines Tages begegnen sich Klara, eine Rädelsführerin der Arbeiter, und Stendel – sie beginnen eine leidenschaftliche Liebesaffäre, durch die vieles außer Kontrolle gerät.
Doch zurück zum Übungswochenende: An diesem sorgte Jean Laurent Sasportas gemeinsam mit Regieassistentin Birgit Scheibe mit großer Geduld sowie noch mehr Erfahrung und Leidenschaft dafür, dass die große Walzerszene mit dem kompletten Festspielensemble einen hohen Perfektionsgrad erreichen wird. Schließlich hat der Festspielverein bislang bei all seinen Produktionen großen Wert daraufgelegt, dass auch die beteiligten Laien und Komparsen dank intensiver Arbeit ihre Rollen überzeugend spielen können. Der Workshop hatte daher zum Ziel, selbst die Akteurinnen und Akteure, die nur einen kleinen Part übernehmen, bestmöglich auf die Szene vorzubereiten.
Walzertanzen ist dabei zwar durchaus anspruchsvoll, aber sein Schwung macht eindeutig gute Laune, wie beim Besuch der Tanzprobe unschwer zu erkennen war. „Es stimmt, außer der strengen Schrittfolge hat die Logik im Walzer nichts zu suchen“, erklärte Sasportas. Für den Workshop hatte der Tanzprofi ein Programm zusammengestellt, das die Vielfalt des Walzers zeigte. Mit Schwung, Vergnügen und fast immer im Dreivierteltakt ging es dabei zur Sache; egal ob Tanznovize oder im Formationstanz aktiv.
Tanz ehemals ein anrüchiger Zeitvertreib
Wer sich heute dem Walzervergnügen widmet, wird kaum wissen, dass der Tanz noch bis ins 20. Jahrhundert hinein als ein eher anrüchiger Zeitvertreib galt. In einem Tanzforum im Internet ist zu lesen, dass sich Paare damals höchstens an den Händen berührt haben. Der Walzer, der allerdings eine enge Paarfassung erfordert, brachte die Tänzerinnen und Tänzer nun in einen Kontakt miteinander, der bis dahin unerhört gewesen wäre. Kein Wunder also, dass sich aus dem 19. und sogar noch aus dem 20. Jahrhundert viele Zeugnisse finden, die den Walzer als Einfallstor der Sittenlosigkeit ausmachen. So heißt es zum Beispiel in einer Gazette für Tanzkunst aus dem Jahr 1886: „In keiner anständigen Gesellschaft wird man dulden, dass ein Herr die neben ihm sitzende Dame um die Taille fasse und an sich drücke.“
Beim Walzer-Workshop war genau dieser Körperkontakt allerdings erlaubt beziehungsweise gewünscht, während Sasportas sich bemühte, alle Tänzer rhythmisch miteinander in Einklang zu bringen. Das Treffen am Wochenende bezeichnete der Profi allerdings erst einmal als Lern- und Spielfeld, auf dem er keine Perfektion von den Teilnehmern erwarte. „Ich gebe etwas vor, doch letztlich wird der Regisseur entscheiden, wie er es auf der Bühne haben will. Die Szene ist ja erst im Entstehen.“ Komponist und Komposition für die Aufführung wären noch nicht festgelegt, die Wahl sei nach immer offen, ergänzte Regieassistentin Scheibe. Und Tanzprofi Sasportas betonte mit Blick auf die Darsteller: „Hier geht es zunächst einmal darum, die Menschen an ein Gefühl zu bringen. Sie sollen sich wohlfühlen, entspannen, Spaß haben und dabei an ihre Fähigkeiten glauben.“ Das hatte erkennbar geklappt.
______________________________________
Kreativ: Die Requisiteurinnen Ilse Schubert (l.) und Gabi Kracke. Foto: FOCKE STRANGMANN
Sie teilen eine Leidenschaft: das Freilufttheater. Während sie hinter den Kulissen wirkt, steht er auf der Bühne. Wie die Festspiele Generationen verbinden.
von Susanne Ehrlich
Henkersschwert und blutverschmierte Fußfesseln waren gestern – für Chef-Requisiteurin Ilse Schubert bringt jede Domfestspiel-Produktion neue Herausforderungen. Dieses Mal muss sie eine komplette Zündholzfabrik aus dem Boden stampfen, einen leeren Platz auf der Bühne in eine wilde Kneipenszenerie verzaubern und ein motorisiertes Töfftöff aus der Gründerzeit zum Rollen bringen.
"Die Streichholzfrau spielt ja in einer ganz anderen Zeit, das bedeutet, dass man kaum Requisiten aus den vorigen Aufführungen nutzen kann und alles neu denken muss", erzählt Schubert und führt als Beispiel die kleine Streichholz-Fabrikation vor, die sie gemeinsam mit Kracke zusammengestellt hat: "Genau so wurde das damals gemacht – nur eine Nummer größer."
Eine riesige Herausforderung hat sie sich selbst gestellt: "Damals kamen ja die ersten fahrbaren Untersätze auf, und so ein motorisiertes Vehikel wollen wir für das Stück in Gang bringen!"
Frau für alle Fälle
Die Frau für alle Fälle hat immer eine Idee. Mitten in der Szenenprobe kann dem Regisseur plötzlich ein ganz bestimmtes Utensil vor Augen stehen: "Ilse, hast Du vielleicht...?" Spätestens bei der nächsten Probe – darauf ist Verlass – ist das Ding an Ort und Stelle, denn Schubert kann aus nichts fast alles machen und in jedem Alltagsgegenstand das Bühnenpotenzial entdecken.
"Diese Frau ist der Hammer", schwärmt Gabi Kracke, die der Requisiteurin bei allen Eventualitäten zur Seite steht und auch beim Bühnenbild mit anpackt. "Was die alles weiß und wie sie alles mal so eben aus dem Hut zaubert – Respekt!" Dabei braucht Kracke ihr eigenes Licht nicht unter den Scheffel zu stellen. Seit vielen Jahren gehört sie zum Domfestspiel-Team, ist außerdem bei der Aller Bühne für den Bühnenaufbau zuständig und feierte dort in diesem Jahr sogar ihr eigenes Bühnendebüt.
Enkel ergattert Kinderrolle
Gerade hat Schubert frisch gebackenen Kuchen und Kaffee auf den Tisch gestellt. "Das mache ich nicht aus Nettigkeit", scherzt sie. "Ihr seid hier meine Versuchskaninchen." Da es in einer Szene Kaffee und Kuchen gibt, müsse sie ausprobieren, welches Backwerk am wenigsten krümelt und am besten runterrutscht, ohne alles vollzuschmieren. "In dem Stück wird außerdem gesoffen und geraucht", verrät sie, "es gibt schließlich ein Wirtshaus, und ein Zigarrenmacher ist auch dabei". Der Kuchen findet vollste Zustimmung. Die Zigarren müssen zum Glück nicht probiert werden.
Doch das Beste, was Schubert diesmal herbeigeschafft hat, ist kein Gegenstand, sondern ein kleiner Mensch: Ihr fast zehnjähriger Enkelsohn Flemming Blohme war früher oft mit der Oma mitgefahren und hatte die spannende Domfestspiel-Atmosphäre hautnah miterlebt. "Da habe ich immer gedacht, wenn ich doch bloß schon 16 Jahre wäre und da mitmachen könnte", erzählt der aufgeweckte Grundschüler, "und als ich hörte, dass es eine Kinderrolle geben würde, haben Mama und ich sofort die Bewerbung geschrieben".
Mutter Christin Blohme hatte wenig Bedenken: "Wir wohnen ja in Intschede, sodass die vielen Proben logistisch kein Problem sind." Mühelos bestand Flemming das Casting, und jetzt ist er der junge Willibert Stendel, der dem Fabrikanten immer dann erscheint, wenn der sich an seine traumatische Kindheit erinnert. "Es gibt eine Szene, wo ich mal wieder Angst vor meinem Vater habe, weil er mich schlagen will und meine Mutter mich nicht beschützt. Da packe ich meinen Koffer und haue ab, aber meine Mutter verfolgt mich und zerrt mich zurück."
Starker Tobak für eine Kinderseele. "Mama dachte zuerst auch, dass ich damit nicht fertig werde, weil ich ein sensibler Mensch bin. Aber ich finde das eher interessant und spannend." Und weil beide Eltern mit benachteiligten Kindern arbeiten, wisse ihr Sohn durchaus, dass es nicht allen so gut gehe wie ihm selbst, ergänzt die Mutter.
Szene geht unter die Haut
Eine Szene geht ihm trotzdem unter die Haut: "Die ist wie in der Geisterbahn. Da werde ich von Willibert angeschrien, weil der denkt, ich wäre echt, und da erschrecke ich mich jedes Mal wieder."
Zu den Proben komme er gern, nur einmal, als er sich nicht gut fühlte, war ihm der Weg schwer gefallen. "Aber als ich da reinkam und die Leute gesehen habe, hatte ich sofort richtig Lust, und die Probe war besonders cool." Auch wenn der junge Mime keine Sprechrolle hat, muss er stets aufmerksam und präsent sein: "Ich muss mir genau merken, wo ich stehen muss und wie ich gucken muss, und was ich auf der Bühne machen soll."
Am Anfang habe er Sorge gehabt, etwas falsch zu machen. "Aber das ist schnell vergangen, als ich gesehen habe, dass auch die Erwachsenen nicht immer alles sofort können."
Wie eine Familie
Auf Flemmings Oma Ilse Schubert und Gabi Kracke kommen jedenfalls aufregende Zeiten zu: "Dieses Mal wird auf der Bühne ständig etwas umarrangiert, und wir sind immer in Action." Aber das ist genau die Stimmung, die Schubert braucht: "Man wird sofort von diesem Fieber erfasst. Am Anfang denkt man manchmal "Das schaffst du nie", und am Ende ist man total stolz und happy." Auch Kracke ist jedes Mal glücklich, wenn es wieder losgeht: "Das ist wie Nachhausekommen zur Familie. Alle freuen sich, wieder zusammen zu sein, das ist ein einmaliges Gefühl." Schubert und Kracke sind immer mitten im Geschehen: "Wir kriegen ja nicht nur einen Ausschnitt mit, sondern sind die ganze Zeit bei den Proben dabei und erleben jedes Detail mit. Das schürt das Fieber."
Beate Ambroselli (l.) und Christin Bokelmann (r.) prüfen, ob die Kostüme der Streichholzfabrik-Arbeiter schon richtig sitzen.
Foto: Susanne Ehrlich
Die Bremer Modedesignerin Christin Bokelmann ist die neue künstlerische Leitung der Kostümwerkstatt. Warum die Arbeit dort so erfüllend ist.
von Susanne Ehrlich
Die "Domi"-Familie hat Zuwachs bekommen: Die Bremer Modedesignerin Christin Bokelmann hat die künstlerische Leitung der Kostümwerkstatt übernommen. Sie bringt nicht nur eine Fülle von Erfahrungen aus ihrem eigenen Modeatelier und aus Präsentations-Aufträgen internationaler Modelabels, sondern auch eine langjährige Leidenschaft für die Theater-Kostüm-Bildnerei mit. "Mit Hans König, dem künstlerischen Leiter und Regisseur der Domfestspiele, habe ich in mehreren Kinder- und Jugendtheaterprojekten zusammengearbeitet, und er hat mich für diese Produktion empfohlen."
Im Herbst fuhr Volker Schwennen zu einem ersten Treffen mit ihr: "Wir mussten ja erstmal schauen, ob wir zueinander passen", feixt der Produktionsleiter. Es sei wichtig, dass zwischen den Mitwirkenden eines solchen Projekts Sympathie bestehe. Und Bokelmann bestätigt: "Für mich sind nicht nur in der Theaterarbeit, sondern bei allem was ich tue, Begegnung auf Augenhöhe und gegenseitiger Respekt das A und O." Davon konnte sich Schwennen, für den genau diese Dinge auch das Credo der Domfestspiel-Arbeit sind, bereits überzeugen: "Christin hat oft in sozio-kulturellen Projekten mitgewirkt und ist es gewohnt, mit Menschen zu arbeiten."
Mode der Gründerjahre
Das Konzept für die Auswahl und Erstellung der Kostüme entsteht natürlich in Absprache mit der Regie. "Aber wenn sich im Laufe der Proben die Figuren immer weiter entwickeln, kann es immer noch zu Veränderungen kommen", weiß Schwennen. "Wir arbeiten hier ja hauptsächlich mit Laien, und mir ist es wichtig, dass sie sich in ihren Kostümen wohl fühlen. Wenn da also ein Problem auftritt, nehme ich das sehr ernst, und wir suchen gemeinsam nach einer Lösung", verspricht Bokelmann. Noch sei sie allerdings dabei, alle richtig kennen zu lernen. Die Kostüm-Künstlerin, die über Jahre mit Modefotografen großer Labels durch die Welt gereist ist, um ganze Kollektionen ins rechte Licht zu rücken, ist prädestiniert für die neue Aufgabe: "In meinem eigenen Atelier habe ich zum Beispiel alte Armee-Kleidung und Herren-Garderobe in Damenkleider umgewandelt. Das macht mir großen Spaß, und außerdem liebe ich die Arbeit mit Menschen."
Mit der Mode der Gründerjahre hat sich Bokelmann intensiv auseinandergesetzt: "Das war die Zeit, wo die Damen sich langsam aus dem Korsett befreiten." In dieser Epoche habe sich das Frauenbild ganz neu entwickelt: "Frauen des Bürgertums gewannen an Freiheit. Sie durften nun auch berufstätig sein, und anders als für die die Frauen der Arbeiterschicht war das ein Privileg und ein Anfang der Emanzipation."
Gemeinsamkeiten verbinden
Auch Schwennen liebt es, solchen Dingen nachzuspüren: "Bei jeder Produktion muss man sich mit einer Fülle geschichtlicher und gesellschaftlicher Themen auseinandersetzen. Das ist immer wieder spannend."
Mit Beate Ambroselli, die bis zu den Domfestspielen 2022 den künstlerischen Bereich der Schneiderei geleitet hat, versteht sich Christin Bokelmann auf Anhieb prächtig: Die über 80-Jährige hatte seinerzeit als Modedesign-Studentin der Hochschule für Künste in Bremen dieselbe Professorin, bei der auch Bokelmann zu Beginn ihres Studiums noch Kurse belegt hatte: "Das war ganz schön verrückt, dass wir beide bei ihr gelernt haben, obwohl ich so viele Jahre später studiert habe", findet Bokelmann, und Ambroselli setzt hinzu: "Als wir feststellten, dass wir sie beide kannten, gab es viel zu erzählen."
Beate Ambroselli ist froh, dass sie nach 27 Jahren die Verantwortung für die künstlerische Gestaltung der Kostüme abgeben kann: "Ich bin ja damals durch Dieter Jorschik zu den Domfestspielen gekommen, für den ich auch schon in Jever gearbeitet hatte." Er habe dringend fähige Schneiderinnen gebraucht: "Alle hohen Damen und Herren der Stadt wollten gerne mitspielen und natürlich schön aussehen." Eine von ihnen sei Regine Meyer-Bolte gewesen, sie habe dafür gesorgt, dass Marga Prange und llse Rippe mit ins Team kamen. "Da waren wir schon drei", erinnert sich Prange. Damals haben wir die Kleider noch auf dem Dachboden der ehemaligen Volkshochschule gelagert."
Wie ein Bazillus
Im Näherinnen-Team habe es über die Jahre viele neue Gesichter gegeben, andere seien ausgeschieden. "Nur Beate und ich sind von Anfang an dabei." Das schweißt zusammen, die beiden Urgesteine der Kostümwerkstatt wurden gute Freundinnen. Ambroselli möchte auch weiterhin Theaterluft atmen, aber nur noch in unterstützender Funktion. Auch Prange hat sich jedesmal vorgenommen, beim nächsten Mal kürzer zu treten. "Aber mit den Domfestspielen ist das wie mit einem Bazillus. Wenn der einen überfällt, dann kann man nichts mehr dagegen machen."
Auch Ulrike Specketer, Meike Heller und Kathrin Ellmers, sämtlich noch berufstätig, können sich dem Bazillus nicht entziehen und sind mit Feuereifer dabei. Doch Volker Schwennen und sein Kostümwerkstatt-Team hoffen, dass sich noch mehr Menschen infizieren: "Wir suchen gelernte Schneiderinnen, aber auch Hobby-Näherinnen, die Lust haben, die Domfestspiele zu unterstützen. Das ist mit so viel Gemeinschaft und Austausch verbunden; man ist Teil des Teams und Teil des Erfolgs." Und natürlich seien auch Männer willkommen, die mit der Nadel umgehen können.
Gerade ist übrigens eine Wagenladung Kostüme aus dem Bremer Theater eingetroffen: Zeit für die allerersten Anproben der Domfestspiel-Saison 2025.
Was passiert, wenn der Ehemann gemeinsam mit der Ehefrau auf der Bühne steht, erfährt das Publikum bei den diesjährigen Domfestspielen. Für welche Bereiche noch überall helfende Hände gesucht werden.
von Susanne Ehrlich
Die Domfestspiele 2025 erzählen weder von mittelalterlichem Aberglauben noch von barocker Macht und Pracht. Hans Königs neues Stück ist viel näher in unsere Zeit gerückt und doch bereits ein Stück fast vergessener Stadtgeschichte. "Die Zündholzfrau" spielt im Jahr 1878 und handelt von schillernden Theaterwelten, dekadentem Reichtum und seiner Kehrseite, dem Elend der Arbeiterschaft in den Verdener Fabriken.
Die Geschichte um die unerhörte Affäre eines erfolgreichen Theaterchefs und Unternehmers mit einer Arbeiterin seiner Streichholzfabrik steht im Spannungsfeld zwischen dem aufstrebenden Unternehmertum der Kaiserzeit und dem wachsenden Selbstbewusstsein der Arbeiterschaft, die in Verden und anderswo beginnt, gegen politische Unterdrückung und Ausbeutung zu rebellieren. Auch Bismarcks Sozialistengesetz, das jeden Widerstand unerbittlich zu bestrafen droht, kann die junge Arbeiterführerin Clara Breden und ihren Bruder Otto nicht davon abhalten, den Widerstand in der Zündholzfabrik zu organisieren und gegen das entrechtende Menschenbild der Klassengesellschaft zu kämpfen.
Es fliegen die Funken
Der Verdener Fabrikbesitzer Willibert Stendel ist zu immer größerem Wohlstand und Einfluss gelangt, obwohl er eigentlich ein Feingeist ist und eine große Leidenschaft für das Theater hegt. Als Nachfolger seines überaus autoritären Vaters leidet er bis heute wegen dessen brutaler Verächtlichkeit unter großen Ängsten und versucht, seine regelmäßigen Panikattacken so gut wie möglich zu verbergen.
Beim Würfelspiel gewinnt Stendel einem Theaterbesitzer seine Spielstätte ab, und gemeinsam mit seiner oberflächlichen und eitlen Verlobten Eugenia fantasiert er fortan von Größe und Ruhm und beginnt, Künstler von Rang zu engagieren – Verden erlebt einen Theaterboom.
Für die Ereignisse in seiner Fabrik bringt er nur noch geringes Interesse auf, bis er die junge Arbeiterin Clara kennenlernt und von ihrem Engagement und ihrer Leidenschaft fasziniert ist. Die schöne junge Frau sprüht Funken – sie verkörpert das genaue Gegenteil seiner berechnenden Verlobten, deren Träume und Visionen sich einzig auf den weiteren sozialen Aufstieg richten. Und plötzlich wird Williberts Leben und Handeln völlig auf den Kopf gestellt. Clara und er beginnen heimlich eine leidenschaftliche Liebesaffäre und lösen damit eine Kette turbulenter Ereignisse aus.
Eifersucht, Machtkämpfe, Intrigen und Verrat sind Zutaten dieser spannenden Geschichte aus einer Zeit, die, wie Hans König es formuliert, "die Weichen zu unserer heutigen Wirtschaft und Gesellschaft gestellt hat".
Ehefrau als Bühnenpartnerin
Der Bremer Schauspieler Andreas Brendel spielt den übersensiblen, verletzlichen und nur nach außen souverän auftretenden Willibert, der sich noch immer nicht richtig vom Einfluss seiner Mutter lösen kann. Die für die Rolle der Klara Breden vorgesehene Schauspielerin Paula Clausen musste aus gesundheitlichen Gründen aus der Produktion ausscheiden. Dadurch entstand die besonders reizvolle Situation, dass Brendel mit seiner eigenen Ehefrau das Bühnen-Liebespaar spielen wird: Vania Brendel, deren Gesicht vielen Zuschauern aus zahlreichen Fernsehproduktionen bekannt sein dürfte, ist für sie eingesprungen: Zuerst ganz gegen den eigenen Stolz und Willen, dann immer leidenschaftlicher verliebt sich Clara in den vielschichtigen, im Grunde seines Herzens so menschlichen und aufrichtigen Unternehmer.
Gebannt haben die ”Domis” Regisseur Hans König (stehend) im vergangenen Herbst bei der Vorbesprechung in Intschede zugehört. Foto: FOCKE STRANGMANN
Festspiele von Bürgern für Bürger: Pünktlich zum Start der Proben können sich die "Domis" über Leader-Fördermittel freuen. Auch auf das Publikum wartet eine schöne Überraschung.
von Susanne Ehrlich
Das ist der Startschuss: Volker Schwennen, Produktionsleiter der Verdener Domfestspiele 2025, hält die Bewilligung für eine Förderung aus dem europäischen Leader-Programm in den Händen. Damit wurde der sozio-kulturelle Anspruch der Domfestspiele nun von höchster Stelle gewürdigt: 90.000 Euro stehen für die Probenarbeit zum neuen Stück "Die Zündholzfrau" zur Verfügung.
Gerade der sozio-kulturelle Aspekt ist neben der hohen Professionalität der Aufführungen, die in jeder Saison über 10.000 Menschen in die Allerstadt locken, das zweite Standbein der Domfestspiel-Idee. "Denn das ist ja das Besondere an unserer Produktion", betont Schwennen, "dass wir unsere Darstellerinnen und Darsteller ausbilden, sodass sie davon auch selbst einen großen Gewinn haben. Sie bekommen professionellen Schauspielunterricht, ebenso Unterricht in Tanz und Gesang." Während der Probenarbeit bilde sich eine soziale Gemeinschaft aus, in der jeder Einzelne wichtig und einzigartig sei. "All unsere Darstellerinnen und Darsteller erfahren hier große Wertschätzung."
Bühne stärkt Selbstvertrauen
Vor allem wer noch nie zuvor auf einer Bühne gestanden habe, gewinne bei den Verdener Domfestspielen ein ganz neues Selbstvertrauen. "Die Leute blühen während der Proben richtig auf", hat Schwennen beobachtet. Auch in diesem Jahr sind wieder viele Neue dabei. Berufliche oder familiäre Veränderungen seien Gründe, warum manch erfahrener "Domi" nicht dabei bleiben könne. "Aber eine Begründung hab ich noch niemals gehört, und die heißt: 'Das macht mir keinen Spaß mehr'."
Bereits im Juli 1998 hatte sich Stefan Kaplon, Inspizient der ersten Domfestspiele und damals noch stellvertretender Leiter der Verdener Stadtbibliothek, direkt vor der Premiere gegenüber den Verdener Nachrichten begeistert geäußert: "Da agieren hoch motivierte Leute, die mit großem Spaß dabei sind." Diese Beobachtung kann Volker Schwennen nur unterstreichen: "Das ist bis heute so. Es ist immer eine große Freude, die Begeisterung der Domi-Gemeinschaft zu erleben, und sie ist auch ein wesentlicher Faktor für unseren Erfolg."
König hält das Zepter in der Hand
Aus der Taufe gehoben wurden die Domfestspiele 1998 mit dem Stück "Das Geheimnis des Bischofs von Verden" unter Regie von Dieter Jorschik, das im Jahr 2000 wiederholt wurde. 2003 und 2005 folgte "Liebesleid und Mauerstreit" unter Regie von Gabriel Reinking und 2008 der "Raub des Domschatzes" mit Ralph Oehme als Regisseur.
Seit 2011 hat Hans König das Zepter in der Hand. Sein Stück "Der steinerne Mann" hatte alle so begeistert, dass sie eine Fortsetzung der Zusammenarbeit mit dem Bremer Autor und Regisseur wünschten. "Das geheime Attentat" (2014), "Der brennende Mönch" (2017) und schließlich "Die rebellische Hexe" (2021) entstanden unter seiner Regie und stammen auch aus seiner Feder.
Seit der Uraufführung des "Bischofs von Verden" haben weit über 1000 Menschen auf und hinter der Bühne den besonderen Charakter der Festspiele mit geprägt. Rund 100.000 Besucher haben die Aufführungen gesehen und über 155 Mitglieder des Domfestspiel-Vereins sorgen auch zwischen den Produktionen für Kontinuität.
Gestiegene Kosten
Das neue Stück "Die Zündholzfrau" spielt in der Blütezeit der Industrialisierung im Jahr 1878. Es werden über 100 Darsteller auf der Bühne stehen, auch einige professionelle und semi-professionelle Darsteller sind wieder dabei.
Die Stadt Verden beteiligt sich mit 70.000 Euro an der Produktion, die, wie Schwennen schätzt, rund eine halbe Million Euro kosten wird. "Auch für uns ist ja alles teurer geworden", umreißt er die finanzielle Situation: "Wir müssen von den Tribünen über Zelte und Toilettenanlagen bis zu den Wagen für Garderobe und Requisiten alles mieten. Auch auf diesem Sektor sind die Kosten in den vergangenen Jahren explodiert." Auch neue Kostüme würden benötigt: "Das Stück spielt in der Gründerzeit, die Kostüme aus Mittelalter und Barock müssen also diesmal im Fundus liegen bleiben." Zum Glück gebe es eine gute Kooperation mit dem Bremer Theater, dennoch müssten viele Kostüme und Accessoires neu geschneidert werden.
Besonders bitter: Durch die Einstufung als "theaterähnlicher Betrieb" könne der Verein die Mehrwertsteuer für all die Anschaffungen, Mieten und Dienstleistungen, die in Anspruch genommen werden müssen, nicht mehr von der Steuer absetzen. "Im Gegenteil, das gilt sogar für zehn Jahre rückwirkend, sodass wir eine hohe Nachzahlung leisten mussten."
Stabile Eintrittspreise
Doch das kann den Verein nicht entmutigen. "Wir haben ja auch noch unsere Sponsoren aus der Wirtschaft, und außerdem hoffen wir natürlich auf ausverkaufte Tribünen, sodass die Eintrittspreise ein Drittel der Kosten abdecken könnten." Die Kartenpreise sind stabil geblieben, auch wenn das gar nicht so einfach zu bewerkstelligen sei: "Es sollen ja Festspiele von Verdener Bürgern für Verdener Bürger sein, und jeder soll sich den Eintritt leisten können."
Das Bühnenensemble ist pünktlich zum Probenstart vollzählig, doch was Kostüme, Requisite, Maske, Bühnenaufbau und all die anderen vielfältigen Aufgaben betreffe, könne der Verein noch jede helfende Hand gebrauchen. Deshalb lädt Schwennen alle ein, die Lust haben, ein bisschen Domfestspiel-Luft zu schnuppern: "Wer gerne näht, sich mit dem Schminken oder Frisieren auskennt oder auf dem Platz mit anpacken möchte, ist bei uns herzlich willkommen."
Das Verdener Stadtführungsprogramm für 2025 lädt zu spannenden Erlebnissen ein. Teilnehmer können im Zuge der besonderen Themenführungen wieder der Geschichte und den Geheimnissen der Stadt auf den Grund gehen.
von Elena Erxleben
Von Kirchenführungen über Geschichten von Hexen bis hin zu schaurigen Touren verspricht das neue Stadtführungsprogramm der Verdener Tourist-Information auch für 2025 abwechslungsreiche Erlebnisse. Zu den Highlights des Jahres zählen wieder die sogenannten "besonderen" Themenführungen sowie Führungen zu den Domfestspielen.
Die neue Broschüre enthält eine Übersicht aller öffentlichen Stadtführungen. Touristen und Verdener finden diese in der Tourist-Information, Große Straße 40, lässt Annkathrin Sommer von der Tourist-Information wissen. Verdens Stadtführer laden dazu ein, die Allerstadt durch Geschichten, Kuriositäten und Einblicke in vergangene Epochen von seiner lebendigen und geheimnisvollen Seite zu entdecken. Interessierte können sich im Internet unter www.verden.de/stadtfuehrungen, unter der Rufnummer 0 42 31/ 1 23 45 oder mit einer E-Mail an touristik@verden.de für die Angebote anmelden.
"Besondere" Stadtführungen 2025
Ganzjährig werden jeden zweiten und vierten Sonntag im Monat die Führungen aus der Reihe der „besonderen Stadtführungen“ angeboten. Besucher können etwa die Geheimnisse Verdener Kirchen, die Geschichten bedeutender Frauen oder die Hintergründe zu alten Straßennamen entdecken, heißt es in der Ankündigung. Die Buchung der Themenführungen ist für Kleingruppen, Paare und auch für Einzelpersonen möglich. Die Teilnahme kostet jeweils neuen Euro, ermäßigt sechs Euro. Alle Führungen starten um 15 Uhr.
105 Laiendarsteller, so viele wie noch nie zuvor, spielen diesmal mit. Rund 65 Prozent sind Wiederholungstäter, unter den Neuen sind auch junge Leute dabei. © Niemann
Verden – Noch 276 Tage bis zur Premiere von „Die Zündholzfrau“ der Domfestspiele, die vom 24. Juli bis 9. August stattfinden werden. Am Sonntag hat der Vorsitzende des Festspielvereins, Ralf Böse, erstmals alle aktiven „Domis“ in der Probenhalle in Intschede begrüßt. Die Vorfreude auf das Spiel ist wieder da, was auch der Autor und Regisseur Hans König betonte.
Christel Niemann
Von ihm bekamen die zukünftigen Festspieler das Projekt im Detail vorgestellt. Auch die Abläufe der nächsten Monate wurden erläutert und die Rollenverteilung bekannt gegeben. Die Proben sollen im Februar beginnen. „Ich selbst freue mich ebenso auf den Probenstart. Auch wenn ich die Domfestspiele bereits zum fünften Mal inszeniere, ist es jedes Mal eine neue Herausforderung, ein Stück auf die Freilichtbühne am Dom zu bringen“, so König. Sein Ziel: Er möchte den Theaterstoff derart umsetzen, dass er sowohl Unterhaltungswert als auch Tiefgang besitzt. König: „Es soll ein großes Spektakel werden, das die ganze inhaltliche Wucht natürlich auch über die vielen Menschen transportiert, die das Stück auf die Freilichtbühne bringen.“
Darsteller gibt es diesmal so viele wie noch in keiner Festspielzeit. Gelistet sind die Namen von 105 Akteuren – 80 Frauen und 25 Männer. Und alle fiebern dem Start der Proben entgegen. Traditionell wird das Laien-Ensemble durch mehrere Schauspielprofis verstärkt. Franziska Mencz, Bernd Maas und Uwe Pekau haben bereits mehrmals mitgewirkt, während Paula Clausen und Andreas Prendel erstmals die Profiriege ergänzen.
Vorverkauf startet Ende November
König räumt ein, dass auch er am liebsten gleich loslegen würde. „,Die rebellische Hexe' im Festspieljahr 2022 haben wir allein in dieser Halle 97 Mal geprobt. Inspirativ habe ich mir kürzlich die Spielfläche am Dom noch einmal angesehen. Irgendwie war es seltsam, vor der steinernen Kulisse des Doms zu stehen ohne das ganze Drumherum, das im Aufführungszeitraum die Atmosphäre ausmacht. Da fragt man sich schon, wie es werden soll.“
Erfreut zeigte sich der künstlerische Leiter noch darüber, dass neben Hiltrud Stampa-Wrigge (künstlerisches Betriebsbüro), Birgit Scheibe (Regieassistenz) und Volker Schwennen (Management, Produktionsleitung) auch Hennig Diers wieder seine Beteiligung zugesagt hat. König: „Diers wird zum zweiten Mal das Bühnenbild verantworten. Während der letzten Domfestspiele haben wir sehr gut zusammengearbeitet. Wir zwei, das passt, und ich erinnere mich an gutes und konstruktives Miteinander. Diers ist ein guter Handwerker, aber vor allem ist er ein wunderbarer Künstler, was man auch in seinen Bühnenbildern spürt.“
Wie Volker Schwennen informiert, wird der Kartenvorverkauf Ende November über Nordwest-Ticket starten. Außerdem werden noch Mitwirkende für den Bereich der Werkstätten, für Aufbau, Kostüme und Maske gesucht. Wer also Lust auf spannende Wochen im Sommer hat und sich in dem neuen Stück engagieren möchte, kann sich bereits jetzt melden.
Eine Zündholzfabrik und eine Gruppe von Arbeitern, die sich gegen ihren Vorgesetzten auflehnen, stehen bei den Domfestspielen 2025 im Mittelpunkt. Die Vorbereitungen für das Stück laufen bereits auf Hochtouren.
von Susanne Ehrlich
Endlich ist es wieder so weit: Das Domfest-Ensemble und seine riesige Fangemeinde können anfangen, sich auf den Sommer 2025 zu freuen. Beim Auftakttreffen in der Probenhalle des Sportvereins in Intschede gab es nicht nur ein freudiges Wiedersehen mit den vertrauten Domis, sondern auch jede Menge neue Gesichter, die sich ganz offensichtlich sofort mit dem Domfestspiel-Virus infizierten. Man sah den Funken direkt überspringen.
Zwischen der "Rebellischen Hexe" und dem neuen Stück "Die Zündholzfrau" liegt ein Vierteljahrtausend Stadtgeschichte. Es dreht sich um den Verdener Unternehmer Willibert Stendel, Inhaber einer Zündholz- und einer Tütenfabrik sowie Theater- und Verlagsinhaber. Es handelt im Jahr 1878 auf dem Höhepunkt der Industrialisierung und wird vom 25. Juli bis 9. August 2025 über die Bühne gehen.
Rund 150 Mitwirkende
Nicht weniger als 80 Frauen und 35 Männer werden in diesem Jahr mitspielen. Ungefähr 45 Prozent von ihnen sind zum ersten Mal dabei. Hinzu kommen die Menschen hinter der Bühne für Auf- und Abbau, Bühnentechnik und Requisite, Kostümschneiderei, Maske und Frisuren. So kommt die Domi-Gemeinde in diesem Jahr auf die stolze Zahl von mindestens 150 Mitwirkenden.
"Es ist eine tolle Ehre, das mit euch machen zu dürfen", ruft Autor und Regisseur Hans König seinem Ensemble zu, über dessen stattliche Größe er sich gar keine Sorgen macht: "Wir hatten gar nicht die Absicht, so viel mehr Aktive zu haben als 2022. Das ist einfach passiert, weil wir gar keine zahlenmäßige Beschränkung für die Bewerbungen hatten." Dass so viele Menschen dabei sein wollen, sei einfach großartig, und genug Platz gebe es schließlich auf der Freilichtbühne.
Beim Auftakttreffen erklärt Regisseur Hans König, was die Beteiligten in den kommenden Monaten erwartet.
"Alle sind gleich wichtig"
Die Rollenverteilung braucht ihre Zeit. Jeder und jede der Anwesenden wird namentlich aufgerufen. "Alle sind gleich wichtig", heißt die Devise der Domfestpiel-Leitung. In den Hauptrollen agieren der Bremer Schauspieler Andreas Brendel als Willibald und seine Kollegin Paula Clausen als Arbeiterin Clara Breden, die gemeinsam mit ihrem Bruder den Protest der Arbeiterschaft anführt und sich ganz wider Willen in den Unternehmer verliebt. Franziska Mencz spielt die Rolle der Eugenia, der überehrgeizigen Verlobten Willibalds. Bernd Maas ist als Claras Bruder Otto ein engagierter Arbeiterführer. Auch Jörg Outzen, Björn Emigholz, Uwe Pekau, Jessica Coels und viele andere bekannte Gesichter sind wieder dabei, und als allerjüngster Domi steht Ilse Schuberts neunjähriger Enkel Flemming Blohme auf der Bühne, der in der Rückblende Willibald Stendel als Kind verkörpert.
Auch diesmal gibt es wieder Musik und Tanz. Eine Reihe junger Frauen muss eine Tanzchoreografie einstudieren, und nicht nur das: "Ihr müsst alle Walzer tanzen", kündigt König an, und das gesamte Ensemble wird auch wieder singen.
Suche nach helfenden Händen
Gar nicht genug kriegen können Hans König und Produktionsleiter Volker Schwennen vom Backstage-Team: "Wir können noch viele weitere helfende Hände gebrauchen", lautet Schwennens Appell. Alle, die Lust haben, hinter der Bühne mitzuwirken, sollen sich rasch über den Button "Mitmachen" auf der Internetseite der Domfestspiele melden.
Mit dem Bühnenbild hat es dieses Mal eine besondere Bewandtnis. Bühnenbildner Henning Diers zeigt ein Modell der Bühne und erklärt: "Die Fabrik und der Salon Willibald Stendels werden erst im Laufe des Stückes immer mehr konkretisiert und bemöbelt." Als Beispiele zeigt er Fensterrahmen und andere Details, die er ins Modell einfügt: "Wir erleben, dass Dinge nicht einfach so da sind, sondern von Menschen gemacht werden." Einige Elemente sollen vor den Augen des Publikums entstehen und an ihren Platz gebracht werden. Es gebe auch eine sehr hohe Bühnenebene, auf ihr spielen die Akteure direkt vor dem Publikum. Ob denn dann überhaupt genug Platz für Pferde sei, wird er gefragt. "Wir haben diesmal keine Pferde, sondern nur ein Automobil", antwortet Diers.
Besondere Atmosphäre
Nun ruft König alle Mitwirkenden in die Mitte. Das Lied "Die Gedanken sind frei" wird im Stück eine wichtige Rolle spielen. Es wird gemeinsam angestimmt. Nachdenklich zögernd, dann laut und kämpferisch – kurz wird der inhaltliche Zusammenhang erklärt, und schon sind alle mitten drin. "Man merkt sofort den Spirit", freut sich Requisiteurin Ilse Schubert. "Diese Aufregung, diese besondere Atmosphäre – die Vorfreude fängt schon an." Auch Regieassistentin Birgit Scheibe ist begeistert: "Man merkt, dass sie alle große Lust haben. Sie brennen jetzt schon, obwohl die Proben erst im Februar beginnen."
Nun kommt eine Spielszene: Alle Mitwirkenden müssen den Saal verlassen und ihn dann wieder so betreten, als sähen sie ihn zum ersten Mal, als sei er ein Gefängnis und berge etwas Bedrohliches. Und all die vielen Menschen lösen nun die Aufgabe auf ihre eigene persönliche Art, lassen ahnen, welch große charakterliche Vielfalt, Kreativität und Spielfreude nun endlich wieder zum Einsatz kommen wird. Und als nun noch einmal das Lied von der Gedankenfreiheit erklingt, sieht man sie sich alle miteinander an den Händen fassen.
Freut sich auf die Festspielsaison: Volker Schwennen. Foto: Vasil Dinev
Die Verdener Domfestspiele erfreuen sich nicht nur in der Allerstadt großer Beliebtheit. Dass das Spektakel regelmäßig unzählige Menschen anzieht, ist auch dem Verein dahinter zu verdanken.
von Susanne Ehrlich
Die Domfestspiele sind ein historisches Theaterspektakel von Verdener Bürgern für Verdener Bürger. Ebenso wichtig wie die Akteure auf und hinter der Bühne sind deshalb die 158 Mitglieder des Vereins Verdener Domfestspiele, die mit ihrem Engagement und ihrer Begeisterung dafür sorgen, dass es in Verden seit 1998 ein kulturelles Highlight gibt, das weit über die Region hinaus strahlt.
Im Jahr 2020 wurde der Verdener Versicherungsfachmann Ralf Böse zum neuen Vorsitzenden des Vereins gewählt. Seitdem ist der Verein um mehr als 50 neue Mitglieder angewachsen.
Mitgliederschub durch "Rebellische Hexe"
"Schon wenn wir uns das erste Mal treffen, um die Rollen zu vergeben und das Stück kennenzulernen, verteile ich die Mitgliedsanträge." 2022 habe es einen richtigen Mitgliederschub gegeben. "Viele Mitwirkende hatten nach der 'Rebellischen Hexe' das Bedürfnis, dabei zu bleiben und weiter Kontakt zu halten", weiß Böse. "Der Begriff von der 'Domfestspiel-Familie' beschreibt wohl am besten diesen Zusammenhalt."
Lesen Sie auch
Verdener Domfestspiele Verstärkung für die Schneiderei gesucht
Die Bremer Modedesignerin Christin Bokelmann ist die neue künstlerische Leitung der Kostümwerkstatt. Warum die Arbeit dort so erfüllend ist.
Dabei bilden sich immer wieder Gruppen, die sich gut verstehen, nicht nur unter den Darstellern und Darstellerinnen, sondern auch in den verschiedenen Gewerken wie Bühnenbau und Bühnenbild, Kostümwerkstatt oder Requisite. "Sie treffen sich auch zwischen den Produktionen, haben Stammtische oder Kaffeerunden." Doch auch der Verein selbst sorge für Kontinuität, sodass alle in Kontakt bleiben, sich austauschen und auch an der Entstehung der nächsten Produktion teilhaben können.
"Nach den Domfestspielen ist vor den Domfestspielen", weiß Böse. Das erste Halbjahr danach diene der Nachbereitung, der Manöverkritik, der genauen Prüfung der Finanzen und Abläufe, der Frage, ob es dabei Dinge gebe, die noch optimiert werden können. Dabei werden auch die Beobachtungen der Vereinsmitglieder sehr ernst genommen. In der Folgezeit wird dann bereits über neue Inhalte nachgedacht. "Die eigentliche Arbeit für die Produktion beginnt anderthalb Jahre vor der Premiere", erklärt Böse. "Dann entsteht bereits das Buch für das Stück, die Kosten müssen kalkuliert werden. Rund ein Jahr vor der Premiere laufen die Castings fürs neue Ensemble."
2014 Blut geleckt
Böse weiß selbst am besten, wie einen das Domfestspiel-Virus packen kann: "Ich habe 2014 beim 'Geheimen Attentat' zum ersten Mal auf der Bühne gestanden, und seitdem möchte ich das Gefühl nicht mehr missen." Auch diesmal will er den Spagat zwischen Engagement im Verein und im Ensemble auf sich nehmen. Er spielt den Theaterdirektor Lenz, der sein Theater beim Würfelspiel an Willibert Stendel verliert.
Als 2020 der Vorstandswechsel anstand, wurde Böse gefragt, ob er bereit sei, den Vorsitz zu übernehmen. "Zuerst hatte ich ordentlich Manschetten, weil ich ja nicht wusste, was da auf mich zukommt. Aber als sich der Vorstand konstituiert hatte, habe ich schnell gemerkt, was für ein tolles Team wir sind, und wie die Arbeit sich gerecht auf alle Schultern verteilt."
Was passiert, wenn der Ehemann gemeinsam mit der Ehefrau auf der Bühne steht, erfährt das Publikum bei den diesjährigen Domfestspielen. Für welche Bereiche noch überall helfende Hände gesucht werden.
Regisseur und Autor Hans König, als zweiter Vorsitzender Teil des Vereins, teilt sich die Verantwortung mit Böse sowie mit Schriftführerin Janina Tessloff und Kassenwartin Stefanie Wegener. Als Produktionsleiter ist Volker Schwennen zwar nicht im Vorstand, aber immer mit dabei, ebenso wie Regieassistentin Birgit Scheibe und Hiltrud Stampa-Wrigge als Leiterin des Künstlerischen Betriebsbüros. "Das ist eine wunderbare Truppe", schwärmt Böse.
Kernprinzip: Flache Hierarchie
Wesentliches Prinzip des Vorstands ist eine möglichst flache Hierarchie. Ein Beispiel für die Übertragung von Verantwortung sei 2022 die finanzielle Mitverwaltung der einzelnen Gewerke gewesen. "Wir haben gesagt, 'Bestellt einfach, was ihr braucht', und wir sind davon ausgegangen, dass jeder damit gewissenhaft umgehen würde." Und das habe sich auch aufs Erfreulichste bestätigt. Ein weiteres Prinzip sei die Einbeziehung aller in sämtliche Angelegenheiten des Vereins und der jeweiligen Produktion. "Wir halten alle Mitwirkenden ebenso wie unsere Mitglieder – da gibt es eine große Schnittmenge – jederzeit auf dem neuesten Stand der Informationen, damit sich alle dazugehörig fühlen."
Auch zwischen den Domfestspielen gebe es eine Reihe spannender Möglichkeiten, sich einzubringen. "Wir beteiligen uns an den Ferienprogrammen der Stadt Verden", zählt Böse auf, "unsere Mitglieder helfen dann bei der Betreuung der Kinder, bei Kulisse und Kostümen. Da sind schon tolle kleine Stücke entstanden. Die Kinder sind begeistert dabei, und es gibt eine tolle Energie zwischen ihnen und den ,Domis'." Zur 50-Jahresfeier der Gebietsreform habe das Team mit "Domfestspiele to go" ein eigenes Format entwickelt, und auch viele andere Theaterprojekte wie beispielsweise die Allerbühne oder das Theater im Krug in Kirchlinteln (TiK) seien von aktiven ,Domis' ins Leben gerufen worden.
"Der Verein engagiert sich in kulturellen und sozialen Projekten und Initiativen. Wir arbeiten mit dem Domherrenhaus zusammen, es gibt die Stadtführungen zu den jeweiligen Themen der Stücke, und wir halten enge Verbindung zu allen kulturellen Institutionen der Stadt." Und der Mitgliedsbeitrag? "Das sind für Privatleute 24 Euro im Jahr und für Firmen 120 Euro." Dafür gibt es die Chance auf eine spannende Reise von den ersten Ideen bis zur Umsetzung auf der großen Freilichtbühne im Schatten des majestätischen Verdener Domes.